Wer ist hier eigentlich arrogant?

  25 April 2016    Gelesen: 603
Wer ist hier eigentlich arrogant?
Geht es um die Flüchtlingskrise, kommt niemand mehr am türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan vorbei: Mit dieser neuen Rolle saniert er das Selbstbewusstsein seines Landes auf fragwürdige Weise. Bei "Anne Will" diskutiert die Runde deshalb über "Erziehungsmaßnahmen".
Diplomatie - das heißt manchmal auch Warten: Als die Kanzlerin am Samstag im Flieger über dem türkischen Gaziantep kreiste, wartete sie auf die Maschine von Ahmet Davutoglu. Der türkische Ministerpräsident durfte vor ihr landen. Ein überflüssiges Muskelspiel? Keineswegs. Vielmehr gehört es zum üblichen Prozedere, dass der Gastgeber einen Staatsgast persönlich empfängt. Trotzdem blieb der Vorgang in Deutschland nicht unbemerkt. Nach der Böhmermann-Affäre scheint es, als würde jedes Zugeständnis der Kanzlerin gegenüber der Türkei als Demutsgeste interpretiert.

Und tatsächlich geht es längst nicht mehr nur um Sachthemen - allein die Titelwahl des Sonntags-Talks bei Anne Will zeigte das: "Abhängig von Erdoğan - Zu hoher Preis für weniger Flüchtlinge?", fragte die ARD-Talkerin und sprach damit auch gleich das Dilemma im Umgang mit dem türkischen Staatschef an. Recep Tayyip Erdoğan ist spätestens mit dem EU-Türkei-Abkommen zu einem der wichtigsten Verhandlungspartner der EU in der Flüchtingskrise avanciert, gleichzeitig widersetzt er sich im Umgang mit Kritikern - seien es politische Gegner, Journalisten oder Künstler - allen Regeln eines Rechtsstaats. Wie also soll man umgehen mit einem solchen Mann?

Der grüne Parteivorsitzende Cem Özdemir entschied sich in der Talkrunde für die Strategie des Herablächelns - und fand im AKP-Abgeordneten Mustafa Yeneroğlu das passende Ziel. Der gebürtige Türke, der in Deutschland aufwuchs und nun für die Erdoğan-Partei in der Großen Türkischen Nationalversammlung sitzt, erwies sich als schwacher Gegner. Der EU und Deutschland warf er vor, Erdoğan wie einen "defizitären Menschen" zu behandeln, dem man Nachhilfe in Sachen Meinungs- und Pressefreiheit geben müsse. Auf sachliche Gegenargumente - etwa die Inhaftierung des kritischen Journalisten Can Dündar - reagierte er reichlich maulfaul. Der Fall Böhmermann? Für ihn eine klare Sache: Wenn der türkische Präsident mit "dieser perversen Fantasie" beleidigt werde, müsse man das ansprechen.

Schulz: "Ist das ein Allmachtsanspruch?"

Eine Steilvorlage für Özdemir, der sofort mit der Frage nach der Verhältnismäßigkeit aufwartete. "Wer Frau Merkel kritisiert, kommt nicht ins Gefängnis", stichelte er und verwies darauf, dass in der Türkei derzeit rund 2000 Verfahren – viele davon gegen Künstler, Journalisten und Intellektuelle - laufen, weil sie bei Erdoğan in Ungnade gefallen sind. Zur Seite sprang ihm EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der ungewöhnlich scharf gegen den Staatschef schoss. "Jeder, der sich kritisch äußert in der Türkei, muss damit rechnen, dass am nächsten Tag das Rollkommando kommt. Das schafft ein Klima der Angst. Warum schränkt er die Freiheiten dermaßen ein? Warum? Ist das ein Allmachtsanspruch?"

Den Fehler, das türkische Selbstbewusstsein zu belächeln, machte Schulz nicht. Als Yeneroğlu die Aufnahme von 2,7 Millionen Flüchtlingen aus Syrien als "Errungenschaft" der Türkei pries, die man respektieren müsse, nickte Schulz zustimmend. Als größter Fürsprecher erwies sich allerdings Kanzleramtschef Peter Altmaier, der sich fast schon altväterlich milde gab – und sogar EU-kritische Töne anschlug. "Wir haben uns in den letzten Jahren für viele Dinge, die in der Türkei passiert sind, nicht mehr interessiert", sagte Altmaier. "Wir haben uns um andere Krisenfelder gekümmert." Dass die Türkei nun wahrgenommen werde als ein Land, "das nicht immer das Problem, sondern Teil der Lösung ist", sei eine große Chance. Dadurch komme viel in Gang.

Çalışkan: "Türkei ist kein sicherer Drittstaat"

Doch aufs Zuckerbrot folgte sogleich die Peitsche. Als Anne Will die sinkenden Flüchtlingszahlen nach dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals ansprach, feuerte auch Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, ein paar Verbalsalven gegen Ankara ab. Es sei zynisch, den Erfolg des Deals an die Zahl der Ankommenden zu koppeln. "Die Türkei ist kein sicherer Drittstaat", kritisierte Çalışkan. Man gehe mit Menschen um wie mit Vieh. Auch die jüngsten Berichte, wonach türkische Grenzer auf Flüchtlinge geschossen haben sollen, bringt sie zur Sprache. Für AKP-Mann Yeneroğlu, der sich zusehends in die Defensive zurückgezogen hatte, war das gerade der rechte Moment, um das deutsche Ego zu filetieren.

Solche Berichte seien falsch, begann er. Und gerade Deutschland stehe es nicht zu, die Türkei in Sachen Sicherheit für Flüchtlinge zu kritisieren. Immerhin gebe es hierzulande fast täglich Angriffe auf Flüchtlingsheime. "Nennen Sie mir mal für die Türkei solche Zahlen!", forderte er - und wusste natürlich genau: Die gibt es nicht. Wie "kolossal verspannt" (O-Ton Will) der Dialog zwischen der Türkei und Deutschland mittlerweile ist, wurde an anderer Stelle aber noch deutlicher. Damit die Visapflicht für türkische Reisende im Rahmen des EU-Türkei-Deals fallen kann, muss Ankara bis Juni noch immer 36 Bedingungen erfüllen. Laut Schulz ist das kaum zu schaffen - ein Einwand, der Yeneroğlu offenbar reizte. "Warum soll man sich die ganze Zeit an Deutschland orientieren? Warum?", fragt er. "Das ist genau die Arroganz, von der ich die ganze Zeit spreche!"

Wer zahlt den Preis der Abhängigkeit?

Laut ZDF-Politbarometer vertreten 80 Prozent der Deutschen die Meinung, Angela Merkel nehme zu viel Rücksicht auf Erdoğan. Anne Will kommt mehrmals in dieser Runde auf die Frage zurück, warum das so ist. Keiner der Gäste kann - oder will - ihr das beantworten. Vielleicht, weil den höchsten Preis für die Abhängigkeit von Erdoğan in der Flüchtlingskrise nicht die Deutschen zahlen, sondern jene Tausende Menschen, die an der türkischen Grenze in Nordsyrien auf Einlass warten. Was sind dagegen zehn Minuten in einem Flieger über Gaziantep?

Bei den Verhandlungspartnern eine Wahl zu haben - das hat sich die EU nach Ansicht von SPD-Mann Martin Schulz ohnehin selbst verspielt. "Wir haben den ganzen Abend über eine Krise geredet, die keine wäre, wenn sich alle 28 Mitgliedsstaaten der EU beteiligen würden", sagte er. Das sei die Ursache dafür, dass es den EU-Türkei-Deal überhaupt gebe. Wenn sich die Linie von Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán weiter durchsetze, schloss Schulz, dann "werden wir noch mit ganz anderen Partnern verhandeln müssen." Zuallererst mit Libyen.

Quelle: n-tv.de

Tags:


Newsticker