Proteste in Russland

  27 März 2017    Gelesen: 803
Proteste in Russland
Nach fünf Jahren Ruhe sieht Russland wieder Massenproteste in den großen Städten. Es sind die jungen Menschen, die gegen das korrupte System demonstrieren. Sie kennen die Angst noch nicht.
Am Sonntag ist Russland wie aus tiefem Schlaf erwacht. Fünf Jahre hat dieser Schlaf gedauert - solange liegt die Protestwelle des Winters 2011/2012 zurück. Sie wurde mit Gewalt beendet: Einige Teilnehmer der vorherigen Großkundgebung am 6. Mai 2012 sitzen heute noch in Haft. Seit jenem Tag war es ruhig auf Russlands Straßen. Politik fand nicht mehr statt, es gab sie nur noch in Form von Außenpolitik, als patriotische Erzählung von Russland Selbstbehauptung gegen den feindlichen Westen.

Jetzt ist die Politik zurückgekehrt auf Russlands Straßen. In Dutzenden Großstädten haben Zehntausende Menschen gegen Korruption protestiert. Allein in Moskau, wo die Kundgebung in der Innenstadt nicht genehmigt war, hat die Polizei nach unabhängigen Schätzungen fast 900 Menschen festgenommen. In Petersburg gingen noch mehr Menschen auf die Straße als in Moskau. Und weil die Polizei lange nicht eingriff, zogen sie einmal quer durch die Stadt - bis vor den Winterpalast, aus dem vor 100 Jahren der Zar vertrieben wurde.

Mit diesem Ausmaß an Protesten hat niemand gerechnet, der Kreml nicht und vermutlich auch nicht ihr Anstifter, Oppositionsführer Alexej Nawalny. Russland hat sich in den vergangenen fünf Jahren stark gewandelt: Mit neuen repressiven Gesetzen, mit weniger Medienfreiheit und stärkerer Ausgrenzung von Andersdenkenden. Auch ärmer ist das Land geworden, insofern gäbe es eigentlich mehr Grund zur Klage. Aber der Missmut über die wirtschaftliche Not ist bisher ohne Richtung geblieben.

Nawalny ist es gelungen, ihm eine Form zu geben. In einer Zeit, da der Staat spart, hat der Aktivist gegen Korruption die Aufmerksamkeit auf den luxuriösen Lebensstil des Premierministers Dmitrij Medwedew gelenkt. Rund 14 Millionen Menschen, das entspricht einem Zehntel von Russlands Bevölkerung, haben auf YouTube und anderen Plattformen Nawalnys Recherchen angeschaut - angelockt vom sarkastisch-witzigen Ton und von den Drohnenaufnahmen mutmaßlicher Residenzen.

Vor allem aber, und das ist die eigentliche Neuheit, hat er eine neue, junge Anhängerschaft mobilisiert. Sie erinnert sich nicht an die Jahre vor Putin oder an die Enttäuschungen der letzten Proteste. Sie weiß noch nicht, was Angst und Enttäuschung sind. Sie hatte keine Zeit, die Reflexe der Älteren zu übernehmen. Ob diese politisierten Schüler und Studenten Russlands Politik beeinflussen können, ist völlig ungewiss. Aber dass es überhaupt wieder eine Politik gibt, einen offen ausgetragenen Streit, den man im besten Fall beeinflussen könnte, das ist immerhin eine Hoffnung.

Quelle : spiegel.de

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