Gekommen, um zu bleiben

  26 Dezember 2017    Gelesen: 527
Gekommen, um zu bleiben
In der Schule lernen die Kinder Türkisch, im Krankenhaus hängt ein Erdogan-Porträt: Die Türkei baut ihre Präsenz in der syrischen Stadt Dscharabulus aus - und plant bereits für die Zeit nach dem Krieg.
Rami Farud hat sich dreieinhalb Jahre lang versteckt. Er hat in Istanbul auf Baustellen geschuftet, während sich die Terrormiliz "Islamischer Staat" in seiner Heimatstadt Dscharabulus im Nordwesten Syriens immer weiter ausbreitete.

Der IS hatte Dscharabulus im Sommer 2013 überfallen, ein Jahr nachdem Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) den Ort unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Die Dschihadisten errichteten ein Terrorregime: Sie exekutierten ihre Gegner, verfolgten jeden, der nicht bereit war, sich ihrer Ideologie zu unterwerfen.

Farud floh, wie so viele seiner Landsleute, über die Grenze in die Türkei. Er hatte sich bereits auf ein Leben in Istanbul eingestellt, als die türkische Armee im August 2016 in Syrien einmarschierte und gemeinsam mit der FSA den IS aus dem Grenzgebiet vertrieb. Farud stand vor einer Entscheidung: Sollte er in Istanbul bleiben? Oder nach Dscharabulus zurückgehen, wo seine Eltern ausharrten? "Mein Heimweh war letztlich größer als meine Angst", sagt er.

Einer der wenigen halbwegs sicheren Orte in Syrien

An einem sonnigen Dezembernachmittag läuft Farud, ein junger Mann mit Bart und zerschlissenen Jeans, durch die Innenstadt von Dscharabulus. Panzer rollen über die Straßen, FSA-Soldaten patrouillieren zwischen den Checkpoints, Kinder sitzen vor Häuserruinen und betteln. Die Luft riecht nach verbranntem Plastik.

Dscharabulus liegt am Ufer des Euphrats gegenüber der türkischen Stadt Karkamis. Vor dem Krieg lebten in Dscharabulus etwa 12.000 Menschen. In den vergangenen Monaten hat sich die Einwohnerzahl mehr als verdreifacht. Die türkische Regierung hatte gehofft, dass syrische Flüchtlinge aus der Türkei nach Dscharabulus zurückkehren würden. Doch bislang suchen vor allem Menschen aus den umliegenden Provinzen, aus Aleppo, Rakka, Idlib, in der Stadt Zuflucht. Dscharabulus gilt als einer der wenigen halbwegs sicheren Orte in dem Bürgerkriegsland.

Durch die Bevölkerungsexplosion steigen die Mieten, Nahrungsmittel und Medikamente sind knapp. Farud arbeitet als Bäcker. Sein Einkommen reicht kaum aus, um zu überleben. Farud bereut nicht, nach Syrien zurückgekehrt zu sein. Doch jeder Tag, sagt er, sei ein Kampf.

Die Menschen in Dscharabulus hängen weitgehend von der Hilfe aus der Türkei ab. Zwar hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Militäroperation "Schutzschild Euphrat" in Syrien im Frühjahr für beendet erklärt, trotzdem kontrolliert das türkische Militär nach wie vor die Region um Dscharabulus.

Yasar Aksanyar, der Vize-Gouverneur der türkischen Grenzprovinz Gaziantep, schreitet durch ein Spalier aus Polizisten in Dscharabulus. Er wickelt die zivile Arbeit der Türkei in der Stadt mit ab. Für den Dezembernachmittag hat die türkische Regierung Journalisten nach Dscharabulus geladen. Aksanyar preist die Entwicklung der Gemeinde gegenüber den Gästen als Erfolgsgeschichte. Seine Regierung, sagt der Vize-Gouverneur, finanziere in Dscharabulus Schulen und ein Krankenhaus. Türkische Soldaten und Polizisten bildeten syrische Kollegen aus.

Aksanyar ist darum bemüht, die Türkei als eine Art Aufbauhelferin darzustellen, keinesfalls als Besatzungsmacht. "Wir haben nicht den Wunsch, dieses Land zu besetzen, sondern wir wollen, dass seine rechtmäßigen Besitzer dorthin zurückkehren", sagt auch Präsident Erdogan.

Für viele Menschen in Dscharabulus fühlt sich die Präsenz der Türken trotzdem wie Fremdherrschaft an. Strom und Wasser in der Region kommen aus der Türkei. Im Krankenhaus hängt ein Porträt Erdogans an der Wand, in der Schule lernen die Kinder Türkisch und singen die Wahlkampfhymne der türkischen Regierungspartei AKP.

"Jeder weiß, dass die Türken in Dscharabulus das Sagen haben", erzählt Abdul Rauf, ein Englischlehrer. Rauf hat seinen Job verloren, als er zu Beginn der Revolution an Demonstrationen gegen Diktator Baschar al-Assad teilnahm. Während der Besatzung durch den IS verdingte er sich als Taxifahrer.

Mittlerweile ist Rauf an seinen alten Arbeitsplatz zurückgekehrt. Er erhält sein Gehalt, etwa 150 Euro im Monat, vom türkischen Staat. Auch der Lehrplan wird in Teilen vom türkischen Bildungsministerium diktiert. Erdogan, sagt Rauf, verwandle Dscharabulus in eine türkische Stadt. Trotzdem seien ihm die Türken als Herrscher lieber als der IS, lieber auch als Assad.

Für die Türkei ist der Einsatz in Orten wie Dschrabulus eine Chance ihren Einfluss im Nachbarland zu wahren. Erdogan hat sich in Syrien verschätzt. Er glaubte zu Kriegsbeginn, Assad stürzen und durch Muslimbrüder ersetzen zu können. Nun kämpft er darum, bei der Nachkriegsordnung in Syrien nicht gänzlich außen vor gelassen zu werden.

spiegel.de

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