Wie Coco fast den Krieg beendet hätte

  11 Januar 2018    Gelesen: 1493
Wie Coco fast den Krieg beendet hätte
Ihre Liebhaber waren Großfürsten, Künstlergenies - und ein Nazi-Spion: Im August 1883 wurde Coco Chanel geboren. Die Mode-Ikone erfand nicht nur das kleine Schwarze, sie war auch Mittelpunkt einer der absurdesten Geheimaffären des Zweiten Weltkriegs.
Was für ein Leben! Als Gabrielle Chanel, die alle immer nur Coco riefen, am 10. Januar 1971 mit 87 Jahren stirbt, trägt die Modewelt Trauer - natürlich in Chanel. Die große Gemeinde, die der Mode-Ikone in der Pariser Kirche Madeleine das letzte Geleit gibt, ist ein gigantisches Defilee von Chanel-Kleidern und -Kostümen.

Coco hat im Alleingang das Image der modernen Frau erfunden: fließende Jerseystoffe und bequeme Schnitte statt steifer Materialien, Tüll und Federn. Skandalöse Röcke, die nicht mehr auf dem Boden schleifen, sondern fast schon das Knie zeigen. Die begnadete Entwerferin macht Hosen für Frauen salonfähig und Kleidchen mit Spaghettiträgern - das legendäre "kleine Schwarze". Statt teurer Juwelen verkauft sie Modeschmuck und macht so die Perlenkette alltagstauglich. Ihr Parfum Chanel No. 5 ist das erste, das nicht mehr nach Veilchen, Mimosen oder Lavendel duftet, sondern nach der Frau, die es trägt.

Die emanzipierten jungen Damen der "Roaring Twenties", jungenhafte Frauen mit kurzer Pagenkopffrisur, die in der Öffentlichkeit rauchen, Auto fahren und Charleston tanzen, lieben Cocos Stil. Und sie selbst: Die Haute volée der Zwischenkriegszeit nimmt die energische Couturière mit offenen Armen in ihre Reihen auf. Reiche Liebhaber finanzieren der am 19. August 1883 unehelich in einem Armenhospital von Saumur geborenen Gabrielle 1910 ihr erstes Hutatelier in Paris, ihre erste eigene Modeboutique in der noblen Rue Cambon, dazu Geschäfte in den mondänen Seebädern Deauville und Biarritz.

Während andere Frauen Chanel-Kleider sammeln, sammelt Coco Liebhaber - der Zarenneffe Großfürst Dimitry Pawlowitsch ist darunter und der Duke of Westminster, reichster Mann Englands, aber auch Künstler wie Pablo Picasso oder Jean Cocteau. Mitte der dreißiger Jahre ist der Name Chanel längst Legende, die mittellose Waise, die ihre Karriere auf dem Tingeltangel begann und sich schon als junges Mädchen von jungen Leutnants aushalten lassen musste, steht im Zenit ihres Erfolgs. 4000 Mitarbeiter beschäftigt die Firma Chanel 1936.

"Die Erfinderin von Chanel No. 5 kann bleiben"
Dann bricht der Zweite Weltkrieg über Frankreich herein. Chanel legt eine patriotische Kollektion in den Farben der Trikolore auf, schließt ihr Geschäft und flieht vor der anrückenden Wehrmacht in die Nähe der spanischen Grenze, in den unbesetzten Teil Frankreichs. Schon bald hält sie es in der Provinz nicht mehr aus, Ende August 1940 kehrt sie in das besetzte Paris zurück. Dort ist das Hotel Ritz am Place Vendôme, in dem sie seit 1933 eine kleine Suite mit Blick auf ihr Geschäft in der Rue Cambon bewohnt hat, von den Deutschen requiriert worden. Chanel stellt sich stur - und darf wieder einziehen. "Wenn es sich um die Erfinderin von Chanel No. 5 handelt, kann sie bleiben", soll der zuständige Offizier entschieden haben.

Und so beginnt im von feldgrauen Uniformen statt Flanellanzügen beherrschten Ritz kurz darauf eine einzigartige Affäre im doppelten Sinne: Eine Liebesaffäre zwischen der weltberühmten, mittlerweile 57-jährigen Modeschöpferin und einem 13 Jahre jüngeren Deutschen. Und eine Geheimdienstaffäre um SS-Generäle, eine Verwandte des englischen Königs und einen tollkühnen Versuch der Chanel, England und Deutschland mitten im Krieg zu einem Separatfrieden zu bewegen.

Wie genau sich Coco Chanel und der deutsche Baron Hans Günther von Dincklage kennenlernen, ist nicht sicher. Chanel wird später behaupten, sie und ihr "Spatz", wie sie Dincklage nannte, seien "alte Freunde" gewesen. Doch zum Liebespaar, das scheint sicher, werden die beiden erst nach der deutschen Besetzung von Paris, im Hotel Ritz.

Ein Baron und Spion

Dincklage, Sohn eines hannoverschen Freiherrn und einer britischen Hochadeligen, schlank und sehr großgewachsen, gibt sich gern besonders distinguiert. Er kokettiert mit seiner englischen Abstammung, ist ein hervorragender Tänzer und hat einen Ruf als Frauenheld. Offiziell ist Dincklage Presse-Attaché an der deutschen Botschaft, aber er hat viel Muße für andere Aktivitäten. Seinen Kollegen gilt er als leichtsinnig, sogar unseriös. Und in der Tat ist Dincklage kein Diplomat: Nach Paris gekommen ist er 1933 mit einem geheimen Sonderauftrag von Joseph Goebbels' Propagandaministerium, wie Chanel-Biographin Edmonde Charles-Roux belegt. In welcher Funktion er danach in Paris bleibt, liegt im Dunkel der Geschichte - aber dass der Baron auch Spion war, ist mindestens plausibel.

Es scheint, dass Chanel und ihr deutscher Freund tatsächlich sehr verliebt sind. Sie, beide eigentlich ausgeprägte Partygänger, meiden öffentliche Anlässe und verbringen ihre Stunden lieber in trauter Zweisamkeit. "Spatz" spielt Klavier für seine Coco und gelegentlich singt Chanel für ihren Geliebten. Der Krieg muss für die beiden wirklich sehr weit weg gewesen sein.

Im Sommer 1943 stellt Dincklage Coco einen Regimentskameraden aus dem Ersten Weltkrieg vor, der jetzt als Besatzungsoffizier für die französische Textilindustrie zuständig ist: Theodor Momm. Der junge Hauptmann stammt eigentlich aus Belgien und ist Sohn eines Färbereidirektors, seine Familie ist bereits in fünfter Generation im Textilgeschäft tätig - Chanel fasst Vertrauen zu dem Freund ihres Liebhabers.

Ein atemberaubender Vorschlag

So kommt es, dass Momm zum Mittelsmann in einer unerhörten Aktion wird, die als skurrile Fußnote in die Annalen des Zweiten Weltkriegs eingeht - aber womöglich auch seinen Verlauf hätte ändern können. Es ist ein atemberaubender, ja geradezu verrückt anmutender Vorschlag, den die Französin ihrer neuen Bekanntschaft macht: Sie, Coco Chanel, will den britischen Premierminister Winston Churchill treffen und ihn zu Geheimverhandlungen mit den Deutschen überreden.

Wie das gehen soll? Coco will in Madrid den britischen Botschafter Sir Samuel Hoare aufsuchen, den sie gut kennt; er soll den Kontakt zu Churchill herstellen. Momm zögert. Am Ende fährt er doch nach Berlin und trägt den Plan im Auswärtigen Amt (AA) vor. Staatssekretär Gustav Steengracht von Moyland bügelt das Ansinnen ab, die abstruse Idee werde "keine weitere Berücksichtigung finden".

Mehr Glück hat der Bittsteller aus Paris im gefürchteten Reichssicherheitshauptamt (RSHA), der Machtzentrale von SS-Chef Heinrich Himmler. SS-Obergruppenführer Walter Schellenberg, der 33-jährige Chef des Auslandsamts, hat ein Faible für ungewöhnliche Aktionen - er selbst war an der versuchten Entführung des Herzogs von Windsor aus Portugal beteiligt gewesen und hatte den Venlo-Zwischenfall organisiert, die Übertölpelung einiger britischer Agenten an der holländischen Grenze, die Hitler den Vorwand zum Einmarsch in die Niederlande lieferte.

Operation "Modellhut"

Jetzt, da nach Stalingrad die Zeit gegen Hitler-Deutschland läuft, ist Schellenberg der Mann, der mit stiller Billigung Himmlers Drähte ins westliche Ausland sondiert - da passt der seltsame Vorschlag aus Paris plötzlich ins Konzept. Die Chancen mögen gering sein, deutlich größer als Null scheinen sie angesichts von Cocos einzigartigen Kontakten schon. Der SS-Mann gibt sein Okay und erfindet einen Codenamen für Coco Chanels Geheimmission: "Operation Modellhut".

Doch es gibt Schwierigkeiten. Coco hat sich in den Kopf gesetzt, ihre Ex-Freundin und -Mitarbeiterin Vera Bate mit zu Hoare nach Madrid zu nehmen. Die nämlich ist mit dem englischen Königshaus verwandt und kennt auch Churchill persönlich. Dummerweise ist sie mit einem untergetauchten italienischen Antifaschisten verheiratet und lebt in Rom. Coco schickt Vera rote Rosen und einen Brief: "Ich will mich wieder an die Arbeit machen, und möchte, dass Sie mir helfen." Gegenüber dem Boten lehnt Vera kategorisch ab, kurz darauf wird sie von der Gestapo verhaftet.

Momm, der wieder in Berlin ist, um Schellenberg Cocos Reisebegleitung schmackhaft zu machen, erfährt dort von Veras Schicksal - die "Operation Modellhut" scheint zu Ende, bevor sie begonnen hat. Doch der SS-Mann bleibt entspannt. "Es war überraschend zu sehen, wie Schellenberg die Pille schluckte", notiert Momm. Kurz darauf trifft Vera in Paris ein. Im Dezember 1943 machen sich die beiden Frauen mit einem deutschen Passierschein auf den Weg in das neutrale Spanien.

Eine surreale Szene

In Madrid sucht Coco Chanel - so hat sie es stets geschildert - Botschafter Hoare auf. Vera will sie als Trumpf in der Hinterhand behalten, falls man ihr, der Französin, keinen Glauben schenkt. Doch die Briten sind über die beiden Frauen informiert und beobachten das seltsame Pärchen erst einmal in Ruhe. So verrinnen die Tage - bis eine Zeitungsmeldung wie ein Blitzschlag einschlägt: Churchill ist schwer erkrankt. Auf dem Rückweg von seinem Treffen mit Roosevelt und Stalin in Teheran hat den britischen Premier ein Virus niedergestreckt, hinter den Kulissen fürchtet man gar um sein Leben. Coco und Vera müssen nach einer Woche unverrichteter Dinge abreisen.

Dann macht die Chanel den Fehler ihres Lebens. Bis heute hadern selbst ihre größten Fans mit dieser Entscheidung: Noch Ende Dezember 1943 reist Coco nach Berlin, in die Höhle des Löwen, um bei Schellenberg im RSHA Rapport zu erstatten - sie will wohl, auch mit Blick auf Dincklage und Momm, das Vertrauen rechtfertigen, dass er ihr entgegengebracht hat. Es muss eine surreale Szene gewesen sein: die 60-jährige, weltberühmte Couturière in der Rolle des gescheiterten Friedensengels und ein Massenmörder in schwarzer SS-Uniform, der als kühl-charmanter Gastgeber mitten im Herzen von Hitlers Imperium aus seinem Agentendasein plaudert - "Hollywood hätte es sich nicht besser ausdenken können", wie der Historiker Alan Bullock befand.

Den Schatten dieses Treffens wird Coco Chanel nie wieder los. Zwei Wochen nach der Befreiung von Paris wird sie als Kollaborateurin verhaftet. Auch wenn sie schnell wieder freikommt und nicht wie andere Frauen mit deutschen Liebhabern mit geschorenem Kopf durch die Straßen gejagt wird - die Schmach bleibt. Sie spricht danach nie darüber. Äußerlich geht es ihr bald wieder bestens: Ihr Tweedkostüm ist 1953 eine Sensation und wird sofort zum Klassiker. Sie ist eine Legende, als sie am 10. Januar 1971 mit 87 Jahren in ihrem Appartement im Ritz stirbt. Ihre letzte Ruhe findet sie in Frankreich trotzdem nicht.

Coco Chanel lässt sich in Lausanne begraben, wo sie mit ihrem "Spatz" Hans Günther von Dincklage die ersten Nachkriegsjahre im unfreiwilligen Exil verbracht hatte.

Zaur Bandaliyev

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