Die „DDR-Bohème“: Alternatives Leben im Sozialismus

  17 Auqust 2019    Gelesen: 700
  Die „DDR-Bohème“: Alternatives Leben im Sozialismus

Im deutschen Staatssozialismus gab es eine Gegenkultur. Die „DDR-Bohème“. Wer dazu zählte und womit sich diese DDR-Bürger beschäftigten oder vielmehr: nicht beschäftigten, und was aus den nach sozialistischem Verständnis als „asozial“ eingestuften Lebensentwürfen nach dem Mauerfall wurde – Paul Kaiser vom Institut für Kulturstudien im Gespräch.

Versteht man unter Bohème die zornigen Töchter und Söhne einer gesellschaftlich angepassten bürgerlichen Mittelschicht, die gegen ihre Väter und Mütter aufbegehren und so – wie 1968 im Westen – einen kulturellen Wandel einleiten, so erscheint dies mit Blick auf die sozialistische DDR verkehrt.

Denn „das Bürgertum in der DDR, also die klassische bürgerliche Gesellschaft, war selbst Subkultur“, so Paul Kaiser vom Dresdener Institut für Kulturstudien.

Kulturwissenschaftler Kaiser hatte bereits im Jahr 1997 am Deutschen Historischen Museum in Berlin eine aufsehenerregende Ausstellung zu „Bohème und Diktatur in der DDR“ kuratiert, sein 20 Jahre später erschienenes Buch „Boheme in der DDR: Kunst und Gegenkultur im Staatssozialismus“ erlaubt Einblicke in das gesellschaftliche Leben und die Situation jener „Kulturschaffenden“, die dem „real existierenden“ Sozialismus kritisch gegenüberstanden und eigene alternative Lebensentwürfe verfolgten.

Er selbst war recht spät noch Teil dieser Kultur geworden – als Mitglied einer Theatergruppe, hatte die Szene jedoch ab Anfang der 1980er Jahre fasziniert beobachtet und Kontakte geknüpft. Heute gilt Kaiser als der Experte für ostdeutsche Kunst, er war es auch, der die mangelnde Präsenz von DDR-Kunstwerken in den Museen kritisierte und 2017 den sogenannten „Dresdner Bilderstreit“ entfachte. Kaiser ist ein Schwergewicht in der Debatte um eine vermeintliche kulturelle Kolonialisierung Ostdeutschlands unter Vorherrschaft Westdeutschlands.

Das Millieu der Bohème

Es sei einerseits verwunderlich, dass es die „DDR-Bohème“ gegeben habe, und andererseits, in welch facettenreichen Varianten sie ab Ende der 1960er Jahre bestand – von Erfurt bis Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), über Leipzig und Dresden bis hin zum „Mythos“ gewordenen Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Das seien die Keimzellen für sich später in politischer Opposition wiederfindenden Kulturträger, so Kaiser:

„Diese Gegenkultur war die Überlebensbasis für alle kritischen und dissidentischen Potenziale in der DDR.“

Vom Millieu her eher aus der Mittelschicht stammend, sahen diese oft aus sozialistischen „Intelligenz-Familien“, aus Nomenklatur- und parteitreuen Haushalten, aber auch aus industrieproletarischen oder Angestelltenverhältnissen entspringenden „Bohèmiens“ den Widerspruch im System. Das, was sie vorfanden – den Unterschied zwischen Realität und gesellschaftlichem Anspruch – habe sie ausbrechen lassen wollen. Sie wagten den Ausstieg aus der Familie und dem System. In den großstädtischen Ballungszentren konnten sie eigene, teilweise sogar infrastrukturell selbstgestützte Kulturszenen bilden: Von Zeitschriften über Galerien bis hin zu Festivals. Damit hätten sie im hermetisch abgeriegelten Raum der DDR eine kulturelle Alternative etablieren können – mit großer Ausstrahlungswirkung auf das gesamte Staatsgebiet und Anziehungskraft auf junge Menschen.

Askese und Hedonismus

Dabei sei die ökonomische Komponente zu DDR-Zeiten nicht problematisch gewesen: Erfindungsreich hätten sich die „Bohèmiens“ bei Künstern anstellen lassen oder hätten das als „asozial“ stigmatisierte „Nichtbeschäftigungsrecht“ gewählt. Viele stellten aber auch Dinge her, die in der von Mangelwirtschaft geprägten DDR schwer zu beschaffen waren, wie Lederkleidung oder Keramiken, und konnten so ihren Lebenunterhalt leicht bestreiten – auch vor dem Hintergrund, dass die Lebenhaltungskosten für Studiomieten vergleichsweise gering waren.

Schlimmer sei die „lebensweltliche Seite“ gewesen, nämlich die Stasi, die Repressionsorgane, Kontrolle und Observation von sich abzuwenden – sie schützten sich, indem sie in Ballungszentren gingen, Nebenwohnungen wechselten, in ruinös-verfallende Gründerzeithäuser zogen, wohingegen der DDR-Normalbürger etwa im Plattenbau am Rand der Stadt residierte.

Die DDR-Bohèmiens lebten zwar teils in „Askese“, aber in einer „Welt des Hedonismus“, fasst Kulturwissenschaftler Kaiser zusammen: „In diesem scheinbar totalitären und scheinbar total völlig gleichgeschalteten System existierten durchaus Freiräume, in dem Individualität und Eigensinn möglich waren.“

Die Wende: Anpassung und neue Zwänge 

Die Zeit des Umbruchs – die Wende – erlebten einige als Befreiung und schlugen ein neues Kapitel auf, andere sahen sich nun wiederum mit der kapitalistischen Realität und wirtschaftlichen Zwängen zur ökonomischen Existenzsicherung konfrontiert. Solidargemeinschaften, die in diesen Millieus geherrscht hatten, „atomisierten“ sich nach dem Fall der Mauer – lösten sich in vielfältige soziale Formen auf. Soziale Gruppen implodierten, und die ehemaligen Mitglieder wandten sich „anderen Themen“ zu.

Als Beispiel nennt Kaiser den heutigen Direktor der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger: Er sei seinerzeit als „Dada-rezitierender Performer“ durch die Lande gezogen, habe in verschiedensten Kunstgruppierungen mitgewirkt und ging dann später in die Politik.

sputniknews


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