300 Milliarden Euro Entschädigungsforderungen an Russland – ist das gerecht?

  24 Auqust 2019    Gelesen: 901
  300 Milliarden Euro Entschädigungsforderungen an Russland – ist das gerecht?

Im Vorfeld des 80. Jahrestages des Molotow-Ribbentrop-Paktes wurden in der Nachrichtenagentur „Rossija Segodnja“ Dokumente des lettischen Außenministeriums aus den Jahren 1939 und 1940 präsentiert, die dem breiten Publikum bisher unbekannt waren.

Sie erlauben es, die Ereignisse jener Jahre mit den Augen der lettischen Diplomatie zu sehen, die Logik dieses Landes, aber auch Deutschlands und der Sowjetunion nachzuvollziehen und diese Sichtweise mit den heutigen Äußerungen baltischer Politiker zu vergleichen.

Gegenwärtig beruht die gesamte Politik der baltischen Staaten auf der Idee, sie seien dem Molotow-Ribbentrop-Pakt zum Opfer gefallen, der übrigens gut zwei Monate nach ähnlichen, ebenfalls mit geheimen Zusatzprotokollen versehenen Abkommen der baltischen Länder mit Nazideutschland geschlossen worden war — aber auch, wer könnte es denken, des russlandfeindlichen Polens (bereits1934!). Das war die gängige Praxis jener Jahre. Die in Moskau präsentierten Dokumente bekräftigen, dass die baltischen Politiker die Zusammenarbeit mit Deutschland für ein kleineres Übel hielten.

In einer Meldung teilte Fricis Kociņš, erfahrener Geheimdienstler und Diplomat sowie lettischer Gesandter in der UdSSR, seinem Außenminister Vilhelms Munters die Meinung seiner Amtskollegen mit:

„Sowohl der litauische als auch der estnische Gesandte waren sich darüber einig, dass, wenn nach Kriegsausbruch für die baltischen Staaten verhängnisvolle Tage kommen würden, die deutsche Gefahr dennoch ein kleineres Übel wäre. Hat man sich eine ‚russische Laus‛ in den Pelz gesetzt, kriegt man sie nie mehr heraus.“

Bemerkenswert ist, dass heute ultranationalistische Politiker in Lettland, insbesondere der Parlamentsabgeordnete Edvīns Šnore, diesen Spruch im Munde führen.

In einem Informationsbericht vom 8. Juni 1939, einen Tag nach der Unterzeichnung der sogenannten Munters-Ribbentrop- und Selter-Ribbentrop-Pakte in Berlin, schrieb Georg Dertinger, Herausgeber der Korrespondenz „Dienst aus Deutschland“, Lettland und Estland hätten neben dem Nichtangriffspakt mit Deutschland eine Geheimklausel unterzeichnet, die sie verpflichtet, mit Zustimmung und in Absprache mit Deutschland alle erforderlichen militärischen Sicherheitsmaßnahmen gegenüber Sowjetrussland zu treffen. Die beiden Staaten, so Dettinger, seien sich dessen bewusst, dass von Sowjetrussland eine Angriffsgefahr für sie ausgeht und eine sinnvolle Umsetzung ihrer Neutralitätspolitik die Entfaltung aller Abwehrkräfte angesichts dieser Gefahr erfordert. Deutschland würde sie dabei unterstützen, in dem Maße, in dem sie selbst dazu unfähig seien.

Eine weitere Meldung von Kociņš an den Außenminister lautet: „Den zahlreichen Gesprächen, die ich mit Einheimischen wie mit Angehörigen des diplomatischen Corps hatte, lässt sich Eines entnehmen: Die Sowjetunion setzt kein Vertrauen in den von ihr unterzeichneten Nichtangriffspakt mit Deutschland, der von sowjetischen Spitzenfunktionären häufig ein Fetzen Papier genannt wird. Das Gerücht, der Vertrag enthalte auch geheime Artikel, läuft auch im diplomatischen Corps um. Der neue nordamerikanische Botschafter Steinhardt behauptete im Gespräch mit mir, es gäbe solche und man könne das Abkommen über die Teilung der baltischen Staaten zwischen Deutschland und der Sowjetunion für eine vollendete Tatsache ansehen.“

Der Leiter der Stiftung „Historisches Gedächtnis“, Alexander Djukow, meint dazu:

„Zuverlässige Informationen zum Inhalt der Geheimprotokolle besaß nur ein Mensch, nämlich der US-Botschafter, dank seinen guten Beziehungen zu einem deutschen Diplomaten in Moskau. Diese Informationen teilte der amerikanische Botschafter seinen Amtskollegen aus anderen Ländern mit, darunter auch dem lettischen. Trotzdem breiteten sich viele verschiedenartige Gerüchte über den Inhalt der geheimen Protokolle aus. Allerdings ist es dem lettischen Außenamt nie gelungen, dieses Knäuel an Gerüchten zu entwirren, ungeachtet der eindeutigen Äußerungen des amerikanischen Botschafters.“

Bemerkenswert ist auch der Bericht des Militärattachés Janis Zalitis an den Stabschef der lettischen Streitkräfte über seine Gespräche in Moskau: „Das Scheitern der militärpolitischen Verhandlungen zwischen England, Frankreich und der Sowjetunion hat nur diejenigen überrascht, die sich großen Hoffnungen auf einen positiven Ausgang dieser Verhandlungen hingegeben hatten. Der Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der UdSSR überraschte alle, auch diejenigen, welche einräumten, Deutschland und die Sowjetunion könnten, wenn auch nicht in nächster Zukunft, doch irgendwie sich einig werden. Durch den Zeitpunkt und die Art, wie der Pakt zustande gekommen ist, fühlen sich die Britten und die Franzosen besonders überrascht und in ihrer Ehre verletzt.“

Ein weiterer Kommentar Alexander Djukows zum weiteren Geschehen:

„Nach Deutschlands rasanten Erfolgen an der Westfront, Frankreichs Niederlage und einer grundlegenden Änderung der militärpolitischen Lage in Europa sah man ein, dass man etwas unternehmen musste. Darüber hinaus erfuhr der Kreml von den Versuchen der litauischen Führung, das Terrain in Berlin zu sondieren, mit der Absicht, das Land unter deutsche Schutzherrschaft zu stellen. Dies verletzte aus der Sicht des Kremls den herkömmlichen Status quo. So beschloss Moskau, diese Entwicklung einzudämmen und zusätzliche Truppen in die baltischen Länder zu entsenden, die man durch ein Ultimatum dazu zwingen wollte. Jedoch dachte die sowjetische Führung noch am 25. Mai 1940 an keine Annexion des Baltikums.“

Die Geschichte hat gezeigt, dass diese Länder, wären sie 1940 nicht in den Staatsverband der UdSSR eingegliedert worden, 1941 sich mit Deutschlands direkt verbündet hätten. Dies bedeutet, dass man sie nach dem Sieg über den Nationalsozialismus unter die Angreiferstaaten eingereiht hätte, mit allen daraus folgenden Nachteilen. „Was sollen wir bezahlen und bereuen?“, fragt der Politologe und Publizist Armen Gasparjan. „Allein Riga verlangt von Moskau für die vermeintliche sowjetische Eroberung etwa 300 Milliarden Euro.“

„Dabei haben wir nur unser Land zurückgewonnen, das wir durch den Zerfall des Russischen Kaiserreiches eingebüßt hatten, nämlich die Westukraine, das Westliche Weißrussland und das Baltikum“, so Gasparjan. „Stalin war sich dessen durchaus bewusst, was passieren würde, falls das Baltikum in Deutschlands Einflusssphäre gerät. Man braucht nur die Entfernung zwischen Tallinn und Leningrad zu messen, um es zu begreifen. Was soll auch das Gerede über eine ‚in den Staub getretene Demokratie‛ im Baltikum? Dort herrschten grausame nationalistische Diktaturen. Die lettischen Organisationen ‚Feuerkreuz‛ und ‚Aizsargi‛ waren der Hitler-Schutzstaffel nachgebildet, angefangen mit der Symbolik bis hin zu dem Gruß! So paradox es scheinen mag, gehörten Deutsche zu den Opfern der lettischen Nationalisten. Deutsche wurden vertrieben und enteignet. Dabei hatten sie noch Glück. Juden wurden einfach ausgerottet.“

sputniknews


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