Zu viel Medizin schadet Patienten und Ärzten

  05 November 2019    Gelesen: 1220
Zu viel Medizin schadet Patienten und Ärzten

Viele Deutsche sind sich sicher: In Arztpraxen und Krankenhäusern werden unnötige medizinische Leistungen erbracht. Gleichzeitig fordern viele Patienten die Behandlungen aber auch ein. Doch diese Überversorgung birgt Gefahren, wie eine Studie zeigt.

Im weltweiten Vergleich hat Deutschland ein gut ausgestattetes

Gesundheitssystem. In kaum einem anderen Land gibt es so viele Ärzte pro Einwohner. Und doch gilt die medizinische Versorgung in der Bundesrepublik als ineffizient. Ein Problem dabei: es wird unnötig diagnostiziert und operiert. Doch überflüssige medizinische Leistungen belasten nicht nur die Patienten, wie neue Untersuchungen der Bertelsmann Stiftung zeigen. Sie verschwenden zudem wertvolle Ressourcen, die für tatsächlich notwendige Behandlungen fehlen.

Sowohl die Ursachen, als auch die Folgen der medizinischen Überversorgung sind vielfältig, wie die Studie aufzeigt. Demnach befördern Fehler bei der Vergütung und Steuerung im Gesundheitssystem den Einsatz fragwürdiger Untersuchungen und Operationen. Gleichzeitig spielen aber auch Erwartungen und althergebrachte Einstellungen sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten eine große Rolle.

Schilddrüsen-OP und Magensäureblocker

Das Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) hat im Rahmen der Bertelsmann-Untersuchung einige Beispiele für unnötige Diagnostik und Therapien herausgearbeitet:

So gab es 2017 etwa 70.000 Schilddrüsenoperationen in Deutschland - mit auffällig hohen regionalen Unterschieden. Bei etwa neunzig Prozent der Eingriffe lagen allerdings gar keine bösartigen Veränderungen der Schilddrüse vor. Mit genauerer Diagnostik könnten viele Operationen vermieden werden.
Bei Eierstock-OPs bestätigt sich der Verdacht auf eine bösartige Erkrankung nur bei zehn Prozent der operierten Frauen. Zu unnötigen Operationen kommt es, weil vielen Frauen ohne Risiko ein Screening empfohlen wird - obwohl dies gegen Leitlinien verstößt.

Bei Medikamenten werden insbesondere Magensäureblocker zu häufig verschrieben: 2016 waren es 3,8 Milliarden Tagesdosen. Experten zufolge werden hier bis zu 70 Prozent aller Verordnungen ohne korrekte Indikation vorgenommen. Das heißt, sie sind medizinisch nicht zwingend notwendig.

Der Anteil von Übertherapie bei der intensivmedizinischen Versorgung am Lebensende liegt Schätzungen zufolge bei 50 Prozent der vorgenommenen Maßnahmen. Oft steht dabei die Verlängerung des Lebens im Fokus, ohne dass die Lebensqualität der Patienten verbessert wird. Frühzeitige palliativmedizinische Versorgung kann die Risiken von Überdiagnostik und Übertherapie am Lebensende verringern.

Die Überversorgung schadet laut der Bertelsmann-Studie den Patienten, weil sie zu Verunsicherung, Komplikationen und Folgeeingriffen führen kann. Gleichzeitig binden unnötige Eingriffe und Therapien Ärzte und Pflegekräfte sowie medizinische Ressourcen des Gesundheitssystems.

So vielfältig wie die Folgen sind auch die Ursachen von Überversorgung. Denn zwar wird das Problem von vielen Bundesbürgern erkannt. Doch wenn es um die eigene Gesundheit geht, neigen Patienten dann doch zu überflüssigen Behandlungen. Ein Hauptproblem: Laut Umfrage meinen 56 Prozent der Bürger, dass jede Therapie besser sei als abzuwarten. In Tiefeninterviews mit 24 Patienten und 15 Ärzten sagen beide Gruppen zudem, dass Ungewissheit schwer auszuhalten sei und sie daher aktives Handeln bevorzugten. Doch dies führe zu Aktionismus, lautet ein Fazit der Studie.

Ärztebewegung "Choosing Wisely"

Hinzu kommen demnach aber auch Fehler im Gesundheitssystem selbst. Die Untersuchung zählt dazu das Nebeneinander von ambulanten und zu vielen stationären Versorgungsstrukturen und die Art, wie Medizin in Deutschland gelehrt, geleistet und vergütet werde. Selbst falsches Handeln werde bezahlt, nicht aber korrektes Unterlassen.

Angesichts der vielen Ursachen schlägt die Studie ein breites Spektrum an Lösungsansätzen vor, um Überversorgung zu vermeiden. So sollten Ärzte etwa die Patienten stärker über Nutzen und Risiken möglicher Behandlungen aufklären, um unnötige und eventuell schädigende Maßnahmen zu verhindern. Praxen und Kliniken sollten Strategien entwickeln, um wenig erfolgversprechende Eingriffe nicht mehr durchzuführen. Politik und medizinische Selbstverwaltung wiederum sollten Nutzen und Risiken medizinischer Leistungen stärker verdeutlichen, gleichzeitig aber die Gesundheitsversorgung bedarfsorientiert und sektorenübergreifend planen und organisieren.

Als mögliches Vorbild verweist die Studie zudem auf die Ärztebewegung "Choosing Wisely" (etwa: Gemeinsam klug entscheiden), die sich für mehr professionelle Verantwortung und gegen Überversorgung einsetzt. So benennen medizinische Fachgesellschaften etwa Leistungen, die überdacht oder ganz unterlassen werden sollten. "Das Konzept ist in anderen Ländern bereits erfolgreich eingeführt worden und findet immer mehr Beachtung. Auch in Deutschland sollte es im Sinne des Patientenwohls stärker unterstützt werden", sagt dazu Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.

Quelle: n-tv.de


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