Wie Berlin plötzlich zur Metropole wurde

  14 Januar 2020    Gelesen: 628
  Wie Berlin plötzlich zur Metropole wurde

Wohnungsmangel, Finanznöte und wachsende Verkehrsströme: Vor 100 Jahren war die Gründung von Groß-Berlin überfällig. Eine Erfolgsgeschichte, die bis heute wirkt.

Die Preußische Landesversammlung war gut besetzt, aber die Stimmung sehr gemischt. In dritter Lesung fand das Gesetz „über die Bildung der neuen Stadtgemeinde Berlin“ am 27. April 1920 endlich eine knappe Mehrheit, nachdem es zweimal durchgefallen war. Dem alten Berlin wurden sieben bis dahin selbstständige Nachbarstädte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke einverleibt.

Groß-Berlin war geboren, gegliedert in 20 Verwaltungsbezirke. „Die neue Stadtgemeinde bildet für sich einen von der Provinz Brandenburg abgesonderten Kommunalverband und Verwaltungsbezirk“, hieß es in Paragraph 1 des Gesetzes.

An jenem historischen Tag vor fast 100 Jahren waren die Mehrheitsverhältnisse zunächst unklar, beide Seiten rechneten sich Chancen aus. Von den 401 Abgeordneten waren immerhin 317 anwesend, in damaliger Zeit keine Selbstverständlichkeit.

Nach Abschluss der namentlichen Abstimmung dauerte es nur zehn Minuten, bis die blauen Ja- und roten Nein-Karten ausgezählt waren. 164 Volksvertreter bekannten sich zum neuen Berlin, 148 waren dagegen, fünf enthielten sich der Stimme.

Sieben Fraktionen saßen in der Preußischen Landesversammlung, von denen sich nur SPD, USPD und Teile der linksliberalen DDP zum neuen, großen Berlin bekannten. Auf dieser Seite des Parlaments verzeichnete das Protokoll nach der Abstimmung lebhaften Beifall und Bravorufe, während die rechten Fraktionen und das Zentrum die Verabschiedung des Gesetzes mit „lautem Zischen“ quittierten.

Berlin profitiert bis heute
Es war eine Entscheidung, von der Berlin bis heute profitiert, durch die erst der Aufstieg zur Weltstadt möglich wurde, städtebauliche Irrwege inbegriffen. Wie hätte, um nur ein Beispiel zu nennen, der - längst wieder verworfene Umbau zur autogerechten Stadt funktionieren sollen in einem die alte deutsche Kleinstaaterei auf kommunaler Ebene wiederholenden Flickenteppich aus einer mittelgroßen Hauptstadt und einem Schwarm von Klein- und Kleinstgemeinden? 

Und wie sollte heute die schwierige Umwandlung zu einer den Bedürfnissen aller Verkehrsteilnehmer genügenden Metropole gelingen ohne eine ordnende, koordinierende, zur Not sich über Partikularinteressen hinwegsetzende Hand? Wie die Planung eines öffentlichen Nahverkehrs, der nicht an der Dorfgrenze endet, sondern den Großraum Berlin – und das wäre er auch ohne das Gesetz von 1920 – sinnvoll mit Bussen, U- und S-Bahnen erschließt?

Ein neuer Abschnitt beginnt
Nun beginne für Berlin ein neuer Abschnitt, „von dem man wünschen möchte, dass er den Gegnern des Gesetzes unrecht gäbe und die zweifellosen Werte der Vereinheitlichung dem riesenhaft gefügten Gemeinwesen fruchtbar machte“, so hatte es die „Vossische Zeitung“ am 27. April 1920 etwas gespreizt formuliert.

Dazu sei es allerdings nötig, dass die „dilettierende Redefreude“, die in den kommunalen Parlamenten bisher vorherrsche, wieder „hinter der schöpferischen Arbeit kritischer Sachkenner“ zurücktrete. Ein frommer Wunsch. Am 1. Oktober 1920 trat das Groß-Berlin-Gesetz in Kraft.

Quasi über Nacht wurde die deutsche Hauptstadt und Industriemetropole – nach London und New York – mit fast 3,9 Millionen Einwohnern zur damals drittgrößten Stadt der Welt. Die Bildung der Einheitsgemeinde, gegliedert in Zentral- und Bezirksverwaltung, gehört zu den wichtigsten Etappen der Berliner Stadtgeschichte. Eine bis heute umstrittene Konstruktion, zu der sich aber nie eine ernsthafte Alternative anbot.

Vor 100 Jahren war die Gründung von Groß-Berlin überfällig. Zwar wurde schon im Juli 1911 mit den umliegenden Kleinstädten und ländlichen Vororten ein Zweckverband gebildet, um drängende Verkehrs-, Bau-, Planungs- und Versorgungsprobleme, die das expansive Bevölkerungswachstum mit sich brachte, gemeinsam zu lösen.

Doch der lockere Zusammenschluss selbstständiger Kommunen konnte die Erwartungen nicht erfüllen. Manche bettelarmen Nachbarorte wie Neukölln, Pankow und Lichtenberg standen sogar vor dem finanziellen Ruin. Nicht nur Hugo Preuß, Reichsinnenminister in der Weimarer Republik, beschwerte sich damals massiv über die „kommunale Anarchie“ in und um Berlin.

1917 beschwor ein Bürger-Ausschuss, der vom Schöneberger Bürgermeister Alexander Dominicus mit dem Segen des Berliner Stadtoberhaupts Adolf Wermuth gegründet wurde, den „großberlinischen Gemeinschaftsgeist“. Mit neuen politischen und Verwaltungsstrukturen wollte man den Wildwuchs in und um Berlin endlich in den Griff bekommen.

Dem stand das Selbstbewusstsein und der Stolz mancher Umlandgemeinden entgegen. „Es schütze uns des Kaisers Hand vor Großberlin und Zweckverband“, soll Stadtrat Emil Müller bei der Grundsteinlegung des Spandauer Rathauses im April 1911 gesagt haben. Aber auch Spandau konnte das Groß-Berlin-Gesetz nicht verhindern.

Was zusammenwächst

- Stadtgemeinden:

Berlin, Charlottenburg, Cöpenick, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg, Spandau, Wilmersdorf

- Landgemeinden:

Adlershof, Alt-Glienicke, Biesdorf, Blankenburg, Blankenfelde, Bohnsdorf, Britz, Buch, Buchholz, Buckow, Cladow, Falkenberg, Friedenau, Friedrichsfelde, Friedrichshagen, Gatow, Grünau, Grunewald, Heiligensee, Heinersdorf, Hermsdorf, Hohenschönhausen, Johannistal, Karow, Kaulsdorf, Lankwitz, Lichtenrade, Lichterfelde, Lübars, Mahlsdorf, Malchow, Mariendorf, Marienfelde, Marzahn, Müggelheim, Niederschönweide, Niederschönhausen, Nikolassee, Oberschönweide, Pankow, Pichelsdorf, Rahnsdorf, Reinickendorf, Rosenthal, Rudow, Schmargendorf, Schmöckwitz, Staaken, Steglitz, Stralau, Tegel, Tempelhof, Tiefwerder, Treptow, Wannsee, Wartenberg, Weißensee, Wittenau, Zehlendorf

- Gutsbezirke:

Schloß, Biesdorf, Blankenburg, Blankenfelde, Buch, Cöpenick, Dahlem, Falkenberg, Frohnau, Grünau-Dahmer Forst, Grunewald, Heerstraße, Hellersdorf mit Wuhlgarten, Klein-Glienecke, Malchow, Niederschönhausen mit Schönholz, Pfaueninsel, Pichelswerder, Plötzensee, Potsdamer Forst bis zum Griebnitzsee und Kohlhasenbrück, Rosenthal, Spandau-Zitadelle, Jungfernheide, Tegel-Forst-Nord, Tegel-Schloß, Wartenberg, Wuhlheide

- Die 20 neuen Bezirke:

Mitte, Tiergarten, Wedding, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Kreuzberg, Charlottenburg, Spandau, Wilmersdorf, Zehlendorf, Schöneberg, Steglitz, Tempelhof, Neukölln, Treptow, Köpenick, Lichtenberg, Weißensee, Pankow, Reinickendorf

tagesspiegel


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