Westpolitiker führen DDR-Wahlkampf

  20 Februar 2020    Gelesen: 542
Westpolitiker führen DDR-Wahlkampf

In der DDR herrscht Wahlkampfstimmung, denn am 18. März 1990 werden die Abgeordneten der Volkskammer erstmals frei bestimmt. Bonner Spitzenpolitiker mischen dabei kräftig mit. Bundeskanzler Kohl tritt am 20. Februar 1990 vor Zehntausenden auf dem Erfurter Domplatz auf.

Erfurt, am 20. Februar 1990: Der Kanzler genießt den Jubel. "Helmut, Helmut"-Rufe ertönen auf dem Erfurter Domplatz, auf dem sich rund 100.000 Menschen versammelt haben, um den Gast aus Bonn zu feiern. Die thüringische Landesmetropole, die zu DDR-Zeiten zu einer Bezirksstadt degradiert worden war, ist Helmut Kohls erste Station im DDR-Wahlkampf.

Am 18. März 1990 finden im zweiten deutschen Staat zum ersten Mal freie Wahlen zur Volkskammer statt. Und die ostdeutsche CDU, die gemeinsam mit der Deutschen Sozialen Union (DSU) und dem Demokratischen Aufbruch (DA) die "Allianz für Deutschland" bildet, muss um den Wahlsieg bangen, denn die Sozialdemokraten liegen in Umfragen vorn.

Es ist ein ungewöhnlicher Wahlkampf, denn er wird maßgeblich von Auftritten von Politikern aus dem Westen bestimmt. Neben Kohl und anderen Unionspolitikern werfen auch die Liberalen Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff, Wolfgang Mischnick sowie die ehemaligen SPD-Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt ins Wahlkampfgetümmel. Nur bei der SED-Nachfolgepartei PDS bleibt man unter sich.

Die in Erfurt versammelten Menschen haben Transparente dabei, auf denen die Einheit Deutschlands sowie die Einführung der D-Mark in der DDR gefordert wird. Aber auch Pro-Kohl-Losungen sind zu lesen. Nur eine kleine Minderheit demonstriert gegen den hohen Gast aus dem Westen und gegen die CDU, sie plädiert für einen eigenständigen Weg der DDR.

Der erfahrene Wahlkämpfer Kohl spürt, dass die Geschichte es gut mit ihm meint, und beginnt nach einem Lob für Erfurt seine Rede pathetisch: "Hier in Erfurt, wo die Begegnung Napoleons mit Goethe stattfand, und ich könnte viele Beispiele historischer Begebenheiten erzählen, hier muss man nicht begründen, dass wir Deutsche ein Volk sind. Wir wollen ein Deutschland und wir sind ein Deutschland." Der Kanzler wird von Rufen wie "Deutschland einig Vaterland" unterbrochen.

Schnur sieht sich als nächsten Regierungschef

Doch Kohl ist auch ein begnadeter Instinktpolitiker, der spürt, dass der ökonomische Umbruch in der DDR von der Plan- zur Marktwirtschaft Risiken mit sich bringt. Also muss den Menschen die Angst genommen werden. "Sie sind genauso fleißig, genauso intelligent, genauso einsatzbereit wie die Menschen der Bundesrepublik", ruft er den Zehntausenden zu: "Wir wollen gemeinsam auch dieses Land Thüringen und Sachsen und Sachsen-Anhalt und Vorpommern und Mecklenburg, die Städte, Dörfer und Gemeinden in der DDR aufbauen. Die Menschen haben hier ebenfalls über 40 Jahre hart gearbeitet. Sie sind nicht schuld an dieser Misere. Es war ein wahnwitziges Regime, das Sie um die Früchte ihrer Arbeit betrogen hat."

Die ostdeutschen Parteichefs der "Allianz für Deutschland", Lothar de Maizière (CDU), Wolfgang Schnur (DA) und Hans-Wilhelm Ebeling (DSU), sind nur Beiwerk - Kohl überstrahlt sie alle. Dabei versucht vor allem Schnur, sich in der Vordergrund zu schieben. "Vor Ihnen steht der nächste Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik", ruft er in einem Anflug von Größenwahn den Kundgebungsteilnehmern zu. Kurze Zeit später spielt der Rechtsanwalt keine politische Rolle mehr, er wird durch den "Spiegel" als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der DDR-Staatssicherheit enttarnt.

SPD verspielt klare Führung

Trotz allen Jubels für Kohl scheint zunächst die SPD bei der Volkskammerwahl die besten Ausgangsbedingungen zu haben: Insbesondere die sächsischen und thüringischen Gebiete waren zu Zeiten der Weimarer Republik sozialdemokratische Hochburgen gewesen. Anfang Februar lag die SPD bei einer Umfrage bei 54 Prozent. Es folgten die PDS mit 12 und die CDU mit 11 Prozent. Allerdings begehen die Sozialdemokraten - Brandt und Schmidt einmal ausgenommen - den großen Fehler, hinsichtlich der Deutschen Einheit zu Bedenkenträgern zu mutieren.

So hatte der saarländische Ministerpräsident und spätere SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine bereits auf dem Berliner Bundesparteitag Ende 1989 vor "nationaler Besoffenheit" gewarnt. Im DDR-Wahlkampf konzentriert er sich auf die negativen Folgen, die eine zügige Wiedervereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes mit sich brächte. Doch das wollen die Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge nicht hören. Dementsprechend verliert die SPD massiv an Zustimmung und am 18. März dann auch die Wahl.

Die Bürgerbewegten und das "Bonner Nilpferd"

Die PDS verfügt in diesem Wahlkampf noch über einen riesigen einsatzfähigen Apparat. Zudem stehen ihr umfangreiche finanzielle Mittel zur Verfügung. PDS-Chef Gregor Gysi, der weiß, dass seine Partei in die Opposition gehen muss, führt einen Anti-Vereinigungs-Wahlkampf.

Demgegenüber führen die DDR-Bürgerrechtler ein Nischendasein. "Das Bonner Nilpferd ist in einer Massivität gekommen, dass man einfach hilflos war. Im Wahlkampf ist einfach der gesamte Apparatismus des Westens in den Osten gebracht worden. Dem hatten wir nichts entgegenzusetzen. Das waren in die DDR exportierte Westwahlen", sagt der Begründer des Neuen Forums, Jens Reich.

So profitiert die konservative "Allianz für Deutschland" am Ende vom Kanzlerbonus. Ihr Sieg knapp einen Monat nach der Erfurter Wahlveranstaltung stellt die Weichen in Richtung zügige Wiedervereinigung. Für Kohl ist sie auch ein wichtiger Meilenstein in Richtung gesamtdeutsche Kanzlerschaft.

Quelle: ntv.de


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