Scholz knöpft das Hemd auf für Potsdam

  25 Februar 2021    Gelesen: 513
  Scholz knöpft das Hemd auf für Potsdam

SPD-Kanzlerkandidat Scholz eröffnet den Wahlkampf um ein Direktmandat für den Bundestag auf neuem Terrain: Der Wahlkreis des Hamburgers ist Potsdam, das Format ist eine digitale Bürgerrunde. Alles nicht ganz einfach, aber Scholz zeigt sich unbeirrt.

Olaf Scholz hat zwei verschiedene Arbeitsoutfits: Trägt er Krawatte, ist er Vize-Kanzler und Bundesfinanzminister. Ist das Sakko sportlich und ein offener Hemdknopf an Stelle des Schlips, ist Scholz dagegen zumeist als Genosse und Kanzlerkandidat seiner SPD unterwegs. Es ist also kein aufwendiges Umstyling vonnöten, als der 62-Jährige nach einem langen Ministertag samt Kabinettssitzung am Abend noch einmal auftritt bei einem in normalen Zeiten wichtigen Termin: die erste Wahlkampfveranstaltung im Wahlkreis des Kanzlerkandidaten, in Potsdam-Mittelmark. Doch von einem pompösen Wahlkampfauftakt kann nicht die Rede sein. Die SPD nennt das Format "Zukunftsgespräche", eine Art digitaler Townhall, in der alle Bürger dem Kandidaten Fragen stellen dürfen. Es soll der Auftakt zu einer bundesweiten Onlinetour durch möglichst alle Wahlkreise sein.

Man muss Olaf Scholz schon selbst erlebt haben, um zu glauben, dass der im Fernsehen meist etwas steif rüberkommende Politiker gut mit Menschen kann. Scholz hat zwar nur nach norddeutschen Maßstäben Temperament, aber er ist zumindest - das merkt man etwa im Vergleich zu Angela Merkel - um gerade Sätze und um im Alltag gebräuchliche Vokabeln bemüht. Es dürfte Scholz schmerzen, Pandemie-bedingt wenige persönliche Auftritte vor Ort absolvieren zu können.

Dafür lässt die Pandemie auch einem Spitzenpolitiker Zeit für Sport. Der sichtlich fitte, weil joggende Scholz lächelt entspannt, als er am frühen Abend vor die Kamera tritt und auf einem ihm gegenüberstehenden Bildschirm die moderierende Potsdamer Stadtverordnete Sarah Zalfen antrifft. 90 Minuten verliest die Co-Vorsitzende der Potsdamer SPD per Mail eingesandte oder im Chat gestellte Fragen. Vorab angemeldete Interessierte können ihr Anliegen auch persönlich in der Videokonferenz vortragen, während die meisten der nach SPD-Zählung bis zu 240 Teilnehmer das Geschehen im Livestream auf Facebook oder Youtube verfolgen. Die Fragesteller scheinen Scholz allesamt wohlgesonnen zu sein: Die Zugeschalteten begrüßen den Kanzlerkandidaten aus ihren Wohnungen heraus mit "Hallo Olaf!". Persönlicher wird es in diesem Digitalformat nicht.

Er ist noch neu in der Stadt

Dieser Abend bietet allerdings durchaus eine Stolperfalle: Fragen zu Wahlkreisthemen. Schließlich lebt der gebürtige Niedersachse und frühere Erste Bürgermeister von Hamburg erst seit zweieinhalb Jahren in der brandenburgischen Landeshauptstadt. Scholz hat keine besondere Verbundenheit zu Ostdeutschland, anders etwa als Annalena Baerbock. Die mögliche Kanzlerkandidatin der Grünen ist zwar ebenfalls Niedersächsin, lebt aber seit ihrer Studentenzeit in Frankfurt an der Oder in Brandenburg - und kandidiert im selben Wahlkreis. Dass sie im kommenden Herbst noch einmal auf nur rund zehn Prozent der Stimmen kommt wie noch 2017, ist einigermaßen unwahrscheinlich. Auch die CDU ist in der Residenzstadt mit ihren Villenvierteln stark. Scholz bewirbt sich also um ein denkbar umkämpftes Direktmandat.

Drei Fragen muss Scholz an diesem Abend zu seinem neuen Wahlkreis bestehen. Was er dazu sage, dass die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten nach dem vergangenen Winterwochenende Schäden durch Schlitten fahrende Kinder beklagt hat? "Ich gebe gerne zu, dass ich die Berichterstattung etwas komisch gefunden habe, dass da jetzt rodelnde Kinder ein Problem sind." Ihn hätten die lachenden Kinder jedenfalls gefreut.

Für welche Denkmäler er sich einsetzen wolle, fragt eine Frau, die an entsprechende Projekte von Maja Schüle erinnert. Die heutige Brandenburger Wissenschaftsministerin hatte bei der Bundestagswahl 2017 in Scholz' Wahlkreis das einzige SPD-Direktmandat in einem ostdeutschen Flächenland geholt. Scholz' Antwort: Er findet Denkmäler und ihre Co-Finanzierung durch den Bund wichtig. Zu einer Frage nach einem in der Region umstrittenen Raststättenbau sagt Scholz: "Ich kenne das Thema schon und ich habe mir fest vorgenommen, dass ich da mal tiefer reingehe."

Auf alles eine Antwort

Ansonsten weist das digitale Format die gleichen Probleme auf, wie Townhall Meetings in der realen Welt: Eine ungeordnete Fülle von Themen wird angeschnitten. Auf jede Frage ist der Kandidat vorbereitet und wenn nicht, nutzt er sie als Stichwort für andere tolle Ideen oder Eigenleistungen. Scholz kann das gut, redet flüssig und kommt fast nie ins Stolpern. Weil die SPD sich vorgenommen hat, mit ihren vier Zukunftsmissionen und einem Wahlprogramm für die kommenden zehn Jahre möglichst konkret in ihren Vorhaben werden zu wollen, muss Scholz sich bei kaum einem Thema auf Floskeln beschränken.

Wohnungen? "Ich möchte, dass in Deutschland 400.000 Wohnungen im Jahr gebaut werden und ich möchte, dass davon 100.000 geförderte Wohnungen sind." Der Berliner Volksentscheid "Deutsche Wohnen enteignen"? "Ich bin dafür, dass man sich darauf konzentriert kommunale Wohnungsgesellschaften zu entwickeln." Sachgrundlose Befristung? "Dieser Missstand muss beendet werden." Breitbandausbau: Da habe die Union "immer wieder dem Druck von Lobbyisten nachgegeben". Das werde er anders machen. Klimapolitik? Längere Ausführungen zu den SPD-Vorhaben und eine Breitseite gegen die Grünen, deren Erneuerbare-Energien-Bilanz in den Ländern schwach sei: "Politik ist nicht nur reden. Nichts kommt von allein, man muss es tun."

Scholz ist "begeistert"

Es war schon in den TV-Auftritten der vergangenen Wochen zu beobachten, dass Scholz seine Erfahrung und sein Detailwissen zu einer Vielfalt an Themen in den Vordergrund stellen will; dabei immer mit fester, ruhiger Stimme und stets angriffslustig in Richtung Union und Grüne. Sowohl aus seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister wie auch als Bundesfinanzminister kann Scholz eigene Erfolge aufzählen, die er selbstbewusst ins Licht rückt.

Es ist die SPD-Strategie, bisherige Merkel-Wähler zu locken, für die Seriosität, Erfahrung und eine auf Ausgleich zielende Politik wichtige Wahlkriterien sind. Je mehr aber der langgediente Scholz seine eigene Rolle in den vergangenen 20 Jahren herausstreicht, desto mehr ruft er auch dem Wähler ins Gedächtnis, dass Scholz und die SPD ja stets in Verantwortung standen - auch für die Missstände, die sie nun aber wirklich bewältigen wollen.

Dieser vermeintliche Widerspruch ist nicht immer leicht zu vermitteln. Doch die "Zukunftsgespräche" werden Scholz noch reichlich Raum geben, am Feintuning von Inhalten und Selbstdarstellung zu feilen. Nicht nur wegen der Pandemie, auch wegen der klammen Wahlkampfkasse - zehn Millionen Euro weniger als noch 2017 und mit 14 Millionen Euro kaum mehr als die Grünen - setzt die SPD vor allem auf Online-Wahlkampf.

Rechnet man aber Zeit und Zuschauer der Potsdamer "Zukunftsgespräche" auf alle Wahlkreise hoch, muss Scholz 18 Tage durchgehend vor der Kamera reden, um mit 75.000 Menschen zu sprechen, von denen viele ohnehin zur SPD neigen. Der Kanzlerkandidat betont, der Vorteil liege bei der digitalen Townhall ohnehin eher im Zuhören als im Reden: "Darum bin ich so begeistert von dem Format: Wenn ich hier 200 Mal, 300 Mal auftrete, werden mir schon alle Fragen gestellt werden." Dann wisse er, was die Menschen wirklich bewege. Hemd aufknöpfen, Ohren spitzen: So läuft er also, der Wahlkampf in Zeiten der Pandemie.

Quelle: ntv.de


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