"Wir müssen impfen im 24/7-Takt"

  03 März 2021    Gelesen: 557
  "Wir müssen impfen im 24/7-Takt"

Massenhaft Erstimpfungen durchzuführen, fordern mehrere Berliner Gesundheitsämter. Wenn man für die Zweitimpfungen keine Bestände zurücklegen würde, könnten viel mehr Menschen Immunschutz bekommen, sagt Nicolai Savaskan, Amtschef in Berlin-Neukölln. Er plädiert dafür, alle Dosen sofort zu verimpfen, denn Nachschub komme bereits in drei Wochen. Deutschland brauche mehr Tempo im Wettlauf mit den Corona-Mutanten.

ntv.de: Am Montagabend waren in deutschen Impfzentren insgesamt fast 2,5 Millionen Dosen Impfstoff übrig. Sie sagen, das darf nicht passieren. Warum?

Nicolai Savaskan: Wir müssen unsere Impfquote verdoppeln, und zwar jetzt. Wir brauchen bei der Impfkampagne einen Strategiewechsel hin zum schnellen Impfen und massenweisen Impfen. Daher muss der Fokus auf der Erstimpfung liegen, nicht auf der vollständigen zweimaligen Impfung. Wir sollten alle Dosen verbrauchen, die wir zur Verfügung haben. Denn eine Erstimpfung reicht schon aus, um schwere Krankheitsverläufe mit Todesfolge zu verhindern.

Ein Teil der Präparate wird zurückgehalten, um zu sichern, dass Impfstoff vorhanden ist, wenn die Zweitimpfung fällig wird.

Aber bereits in drei Wochen wird Deutschland mehr Impfstoff zur Verfügung haben, als man in den Zentren täglich verimpfen werden kann. Der Nachschub folgt also. Als Gesundheitsamtsleiter werde ich derzeit ständig gefragt, warum das Impfen nicht schneller geht. Es ist unbefriedigend, darauf keine Antwort zu haben, da Impfen Ländersache ist. Aber wir müssen jetzt den Turbogang beim Impfen einlegen.

Wie müsste der aussehen?

24 Stunden an sieben Tagen der Woche, so wie es in vielen anderen Ländern auch gemacht wird. Hätten wir anstelle der Zweitdosen bisher nur Erstdosen verimpft, dann könnten laut einer Studie 14.000 Menschen, die an Covid-19 verstorben sind, noch leben. Wenn wir verhindern wollen, dass uns die dritte Welle einholt, dann müssen wir Vorsprung schaffen - beim Impfen und durch Selbsttestungen. Die Gesundheitsämter können und wollen da helfen, genauso wie die Hausärzte.

Was wollen die Ämter beitragen?

Wir sind ja im Ursprung gar nicht die Hygienepolizei, als die wir nun häufig wahrgenommen werden. Die Gesundheitsämter haben vor allem enge Kontakte zu vulnerablen Gruppen - zu psychisch und chronisch Kranken, zu Pflegebedürftigen, die aber zu Hause leben. Jüngst hatten wir zwei Ausbrüche in mobilen Pflegediensten, bei denen Personal Corona-positiv getestet wurde. Das ist ein großes Risiko, eine infizierte Person kann das Virus in 30 Haushalte mit pflegebedürftigen Menschen tragen. In diesem Bereich muss viel mehr und schneller geimpft werden, wenn wir schwere Verläufe und Todesfälle wirklich verhindern wollen. Dabei können die Ämter zusammen mit den Hausärzten helfen, denn wir kennen diese Menschen.

Sie fordern, die Gesundheitsämter insgesamt stärker einzubinden, auch wenn politische Entscheidungen anstehen. Was könnten Sie da leisten?

Mit den Daten des Gesundheitsdienstes kann man den Radar viel feiner einstellen. Wir sollten die Inzidenz nach Altersgruppen bündeln. So kann man sehen, von welchen Altersgruppen und Infektionsorten das Infektionsgeschehen gerade besonders stark angetrieben wird. Auch auf bestimmte soziale Gruppen können wir rückschließen.

Was können Sie denn konkret für Ihren Bezirk Neukölln aus dem Anstieg der Inzidenz in den letzten Tagen für Schlüsse ziehen?

Unser derzeitiges Monitoring ergibt einen deutlichen Anstieg bei den 5- bis 14-Jährigen, das lässt sich auf die Schulöffnung zurückführen. Dann sehen wir aber auch höhere Infektionswerte bei Neuköllnern, die zwischen 20 und 24 Jahre alt sind. Das hat sicherlich mit privaten Zusammenkünften zu tun. Wenn wir nun mehr Mittel und Kompetenzen hätten, könnten wir diese Altersstufe recht gezielt ansprechen - über das Arbeitsumfeld, über Vereine oder Stadtteilmanager und über Corona-Lotsen, die mit bestimmten Bevölkerungsgruppen gezielt ins Gespräch kommen. Auf dieser kommunalen Ebene kann man die Leute viel besser für ihr Verhalten sensibilisieren und fit machen für Selbsttestungen.

Klingt ein bisschen nach "Gefährder-Ansprache".

Auf keinen Fall. Es darf nicht darum gehen, jemandem die Schuld an der Inzidenz zu geben, sondern zu zeigen: "Hier kannst du deinen Beitrag leisten". Neuköllner Streetworker arbeiten schon lange so: Sie sagen: "Das hier ist ein Test, der gibt dir Sicherheit. Der funktioniert folgendermaßen ..." Auf diese Art könnten wir unsere Strategie viel feiner justieren. Stattdessen fixieren wir uns seit bald einem Jahr ununterbrochen auf die 7-Tage-Inzidenz. Das hat schon fast sakrale Züge.

Wenn das Gesundheitsamt aber in der Prävention aktiver wird, wie soll es dann noch die Nachverfolgung der Kontakte leisten?

Die Kontaktnachverfolgung ist eine gut vermittelbare und erlernbare Aufgabe. Für Berlin haben wir mal einen Durchschnittswert gebildet, der besagt, dass ein Fallermittler mit drei Nachverfolgungen pro Tag gut ausgelastet ist. Es sollte also der nächste Schritt sein, dass die Nachverfolgung von zusätzlichem Personal übernommen wird. Und auch hier bräuchten wir ein Monitoring. Das fühlt sich im ersten Moment vielleicht wie Ämterkontrolle an, aber es ist einfach ein wichtiger Parameter, ob die Gesundheitsämter die zeitnahe Nachverfolgung noch leisten können. Klar ist, die Gesundheitsämter werden jetzt zunehmend in der Prävention und sozialmedizinischen Versorgung dringend benötigt.

Mit Nikolai Savaskan sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de


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