Die neue, unberechenbare Dimension des Syrien-Kriegs

  26 Auqust 2016    Gelesen: 517
Die neue, unberechenbare Dimension des Syrien-Kriegs
Unbegrenzbar, immer gefährlicher, ohne Ziel und ohne Ende: Der Syrien-Krieg weitet sich mit dem Einmarsch türkischer Bodentruppen aus. Analysten sprechen von einem neuen Dreißigjährigen Krieg.
Türkische Panzer rollen nach Syrien, und die Welt rätselt, mit wem die Aktion abgestimmt ist – wenn überhaupt. Schon aus technischen Gründen braucht die türkische Militärführung, noch mehr aber die Politik in Ankara die Verständigung mit Russen und Amerikanern, die ihren eigenen Krieg aus der Luft führen, miteinander und gegeneinander.

Dass es eine Nato-interne Abstimmung gab und gibt, ist nach bisherigen Erfahrungen eher unwahrscheinlich. Der syrische Krieg erhält damit eine neue, weitere und weitgehend unbekannte Dimension.

Erdogan will das Vorfeld festigen, den Kurden die Faust zeigen, die Mordbuben des IS bestrafen und bei alldem noch als Sieger und Beschützer der Seinen dastehen. Da hat er sich viel vorgenommen – mehr jedenfalls, als er kontrollieren kann. So weit von außen erkennbar, ist eher Flucht nach vorn im Gang als große Strategie.

Der syrische Kriegsschauplatz weitet sich aus, der Krieg geht mit der türkischen Intervention und dem Übergang von Verweigerungsstrategie zu aktivem Gestaltungsanspruch in eine neue Phase: Unberechenbar, unbegrenzbar und immer gefährlicher für die Region zwischen Mittelmeer und Golf – und damit für Europa. Was bleibt, ist eine Zwischenbilanz.

Was vor fünf Jahren als "arabischer Frühling" gefeiert wurde, hat sich längst als Winter der Verzweiflung erwiesen. Von Ägypten bis Syrien fielen die Dominos – zum Applaus aus westlichen Hauptstädten: Willkommen im Himmel der Demokratie, so jubelten westliche Politiker, unvergesslich der deutsche Außenminister auf dem Tahir-Platz in der Mitte von Kairo. Viele Orientalisten sahen den lange vergeblich erhofften Beweis erbracht, dass Araber zur Demokratie taugen.

Kampf bis zur restlosen Vernichtung

Bald aber öffnete sich die Hölle des Bürgerkriegs, nirgendwo drohender und blutgieriger als in Syrien. In dem fruchtbaren Land am Mittelmeer war über Jahrzehnte die Assad-Dynastie an der Macht, erst der unerbittliche Hafis al-Assad, ehemals Luftwaffenkommandeur mit Basis in den Gebieten der Alawiten, dann Sohn Baschar, der einen zivilen Hintergrund hatte und zunächst, als er die Erbfolge antrat, reformerische Neigungen erkennen ließ.

Aber 2011, als er und seine machtvollen Prätorianer die Macht der Clans und Stämme in Gefahr sahen, ließen sie Geheimpolizei und Militär scharf schießen, um jede Lust an Demos und Demokratie zu ersticken. Massaker und Folter folgten und forderten wiederum Rache und Vergeltung ohne Ende. Es zeigte sich, dass Syrien, bis dahin im eisernen Griff der assadschen Machtministerien ruhig gehalten – sichere Destination für klassische Bildungs- und Sonnentouristen –, in Wahrheit soziale, religiöse, wirtschaftliche Sprengkräfte enthielt, die nicht mehr zusammenzuhalten und schon gar nicht zu versöhnen waren.

Das hat zur Folge, dass Vertreter der Überlebenden bis zum heutigen Tage nicht einmal mehr an runden Tischen irgendwo im Rest der Welt zusammenzuführen sind. Historisch bewanderte Analysten sprechen von einem neuen Dreißigjährigen Krieg ohne Ziel und ohne Ende, außer der restlosen Vernichtung des Feindes.

Wenn aber jeder Beteiligte weiß, dass es keine Gnade gibt, kein Vergeben und Vergessen, dann bleiben nur Mord und Totschlag, Barrelbomben und Chemiewaffen bis zum bitteren Ende. Irgendwo auf diesem Leidensweg befinden sich die Syrer heute und seit langer Zeit.

Mehrere Kriege auf einmal

Wieso aber gibt es kein wirkungsvolles Eingreifen, um Massenmord und Massenflucht zu verhindern und, wenn es nicht von innen geht, Waffenstillstand von außen durchzusetzen und eine Aussicht auf Frieden zu finden, Blauhelme zu schicken und ein versöhnendes Entwicklungsprogramm durchzusetzen in einem Land, das aufgrund seines Ölreichtums sogar noch selbst für eine neue Art Marshallplan bezahlen kann?

Die erste und einfachste Antwort lautet, dass es sich nicht um einen einzigen Krieg handelt, sondern um deren mehrere. Im syrischen Bürgerkrieg kämpfen Religiöse gegen Säkulare, Sunniten gegen Schiiten, Aufständische gegen das Regime, das Regime gegen die Mordgesellen des IS ("Islamischer Staat"). Aber Assad gehört wiederum zu jenen arabischen Führern, die den IS von der Leine gelassen haben. Die benachbarten Mächte wollen ihre Interessen wahren und schicken Waffen und Geld. Erdogans Türkei sieht Assads Syrien als Bedrohung, die es möglichst weit vorwärts der eigenen Grenzen abzuwehren gilt, aber mittlerweile gilt auch der IS als Feind.

Der verzweifelte Versuch der Kurden, einen eigenen Staat dem Chaos zu entreißen, spielt hinein und ängstigt die Türken noch mehr als die Gräuel des IS. Der Gegensatz der sunnitischen Saudis zu den schiitischen Iranern wird durch den unvereinbaren Anspruch genährt, Führungsmacht der Region zu sein.

Endlich und vor allem begegnen einander die Weltmächte USA und Russland. Was beide verbindet, ist die Abneigung gegen verlustreiche und ungewinnbare Landkriege in Asien, die Angst vor islamistischem Terror und IS und die Behauptung von Stützpunkten am Golf und am Mittelmeer. Dass aus der Luft Kriege nicht gewonnen werden, wissen beide Seiten. Aber die USA betreiben an der Spitze einer bunten Koalition Verweigerungsstrategie und den Anspruch auf Teilhabe, scheuen aber wie Russland den vollen Einsatz. Das Eingreifen amerikanischer Kampfmaschinen sichert den USA beides, Mitsprache und Kontrolle.

Für Russland und Putins Admirale geht es in Tartus um den einzigen Flottenstützpunkt in der Region südlich der Dardanellen. Die Flottenbasis ist der wichtigste Grund, warum Putin Assad unterstützt und aus der Luft die Wende gegen die Aufständischen herbeigebombt hat. Aber Luftmacht ist begrenzt: Sie kann verhindern und verweigern, aber nicht gestalten. "Boots on the ground" – US-Jargon für Landkrieg – scheuen beide Mächte: nicht noch einmal Afghanistan.

Eine arabische Mär ist widerlegt

Und was ist mit Israel? Der syrische Krieg hat so etwas wie eine stille Allianz mit einigen Nachbarn gestiftet, namentlich Ägypten, Jordanien und – zuletzt und vor allem – Saudi-Arabien. Davon wird öffentlich möglichst nicht gesprochen. Es bleibt aber ein Faktor, ohne den der Rest an Berechenbarkeit und Stabilität, den die Region noch birgt, nicht zu erklären wären.

Arabische Politiker haben sechs Jahrzehnte lang dem Westen und sich selbst einzureden versucht, wenn nur der Judenstaat nicht wäre, wäre der Nahe Osten ein Ort brüderlicher Liebe. Die Agonien Syriens sind unüberhörbare Widerlegung solcher Propagandalehren. Und, so fügen die Israelis hinzu, mit wem könnten sie heute Frieden schließen, und wie sähe die Region aus, wenn das Hochplateau des strategisch beherrschenden Golan in den Händen von Hisbollah, IS oder al-Qaida, al-Nusra und ähnlichen "Menschenfreunden" wäre? Im Nahen Osten sind Vernunft und Mäßigung die knappsten Güter, und Europa muss dankbar sein für alles, was davon im Angebot ist, und darauf seine Hilfe konzentrieren.

Krieg wird oft mit Schachspiel verglichen. Wer den syrischen Krieg auf solche Weise darstellen wollte, müsste ein Dutzend Schachbretter nutzen, große und kleine, hoffnungslos ineinander verkeilt.

Quelle : welt.de

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