Eines ist sicher: Der heutige Tag wird in die Geschichte eingehen. Anderthalb Jahre haben Brüssel und London über die Bedingungen des EU-Austritts verhandelt. Heute Abend stimmt das britische Parlament nun über den Deal ab. Für die Briten ist das Votum vor allem ein Scherbengericht über Premierministerin Theresa May und ihre Regierung. Doch für das Land und für Europa geht es um alles. Egal welches Brexit-Szenario in den kommenden Monaten Realität wird, für London und Brüssel dürfte nichts Gutes herauskommen.
Plan A: May gewinnt die Brexit-Abstimmung
Auch wenn selbst viele in ihrer eigenen Regierung daran zweifeln: Rein theoretisch könnte Theresa May den Brexit-Deal im Parlament durchbringen. Großbritannien tritt dann wie geplant am 29. März aus der EU aus. Für eine Übergangszeit bis 31. Dezember 2020 bleibt alles wie es ist. Großbritannien muss seine finanziellen Verpflichtungen erfüllen, ist weiter Teil des EU-Binnenmarkts und der Zollunion und muss alle EU-Gesetze und Urteile des Europäischen Gerichtshofs befolgen. Das Einzige was sich ändert: In Brüssel dürfen die Briten nichts mehr mitbestimmen.
Während des Übergangs verhandeln London und Brüssel ihre künftigen Beziehungen - Ausgang offen. Falls es kein neues Handelsabkommen gibt, bleibt Großbritannien Teil der Zollunion und Nordirland sogar Teil des Binnenmarkts - also faktisch Teil der EU. Diese Notlösung, der sogenannte Backstop, soll eine harte Grenze mit Irland vermeiden und den Frieden zwischen Katholiken und Protestanten sichern. Die Übergangszeit kann bis spätestens zum 1. Juli 2020 einmal verlängert werden. Dann müsste London weitere Beiträge nach Brüssel überweisen.
Ein ziemlich fauler Kompromiss, bei dem sich die EU auf ganzer Linie durchgesetzt hat. Deswegen lehnen die konservativen Brexit-Hardliner und Mays Koalitionspartner von der nordirischen DUP ihn ab - und er dürfte fast sicher durchfallen. Zumal auch die Labour-Opposition ihr Veto angekündigt hat.
Plan B: Brüssel bessert nach
Verliert May die Abstimmung, sitzt Großbritannien erst recht in der Klemme. May will für den Fall einer Niederlage versuchen, Druck auf Brüssel zu machen und der EU Zugeständnisse abzuringen, mit denen sie den Deal im zweiten Anlauf durchbringen kann. Doch dieser Plan ist heikel.
Das Parlament hat May eine Frist von nur drei Sitzungstagen gesetzt, um eine Alternative zum bisherigen Brexit-Deal vorzulegen. Das wäre der 21. Januar. Abgesehen vom Zeitdruck hat die EU wenig Anreiz nachzubessern: Trotz offener Drohungen aus London hat sich Brüssel auch in zwei Jahren so gut wie nicht bewegt. Und ohne ein Abkommen droht Großbritannien nun in weniger als drei Monaten der Chaos-Brexit.
Dabei hat natürlich auch Brüssel viel zu verlieren. Aber der Schaden für Großbritannien wäre deutlich größer. Und weitere Zugeständnisse aus Brüssel würden die Einheit des Binnenmarkts und der Zollunion, die Kernpfeiler der EU, gefährden. Der mühsam gefundene Kompromiss könnte zerfallen, wenn Brüssel ihn wieder aufschnürt. Mehr als kosmetische Änderungen sind daher unwahrscheinlich. "Es wird keine Nachverhandlungen geben", hat EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker klargestellt.
Plan C: Die EU hält die Uhr an
Das vermutlich einzige Zugeständnis ist eine Verlängerung der Austrittsfrist über den 29. März hinaus, aus Angst vor dem drohenden Chaos und denMilliarden-Lasten bei einem harten Brexit. Sowohl hochrangige EU-Politiker als auch Mays Kabinett sollen sich laut Medienberichten darauf einrichten. Allerdings müssten alle 27 EU-Staaten die Bitte aus London einstimmig absegnen. Und viel Zeit ist ohnehin nicht, denn ansonsten müssten auch die Briten Ende Mai wieder an den Europa-Wahlen teilnehmen.
Ohne Anzeichen, dass Bewegung in die verfahrene Lage auf der Insel kommt, dürfte Brüssel also kaum Aufschub gewähren. Die EU wird die Uhr nur anhalten, wenn sich dadurch die Chance auf klare politische Verhältnisse in London ergibt. Auf weiteres Durchwurschteln hat sie sicher keine Lust.
Deswegen kommt es nicht nur darauf an, ob May die Abstimmung verliert, sondern wie deutlich. Und was sie danach tut. "Wenn es 200 Stimmen Mehrheit dagegen sind, dann ist, fürchte ich, das Spiel beendet", sagt CDU-Europapolitiker Elmar Brok. Seien es nur 80, wäre vielleicht ein "zweiter Aufschlag" möglich. Die BBC geht davon aus, dass May 114 Stimmen fehlen. Natürlich wäre denkbar, dass May dann trotzdem im Amt bleibt oder ein konservativer Nachfolger sie beerbt. Solange es im Parlament aber weiter keine Mehrheit für den Deal gibt, steuert Großbritannien auf den Chaos-Brexit zu - oder politische Umwälzungen.
Lösung 1: Neuwahlen
Ein Weg zu einer politischen Neuordnung wären Parlamentswahlen. Bis zum 29. März könnten sie allerdings kaum organisiert werden. Dass die EU mehr Zeit gewährt, ist also faktisch Vorbedingung. Zwei Drittel der Abgeordneten müssten dann für die Parlamentsauflösung stimmen oder eine Mehrheit der Parlamentarier May per Misstrauensvotum absetzen und es innerhalb von zwei Wochen nicht revidieren, indem etwa ein neuer Regierungschef gewählt wird. Labour-Chef Jeremy Corbyn will das Verfahren sofort in Gang setzen, sollte May die Abstimmung verlieren.
Damit es Erfolg hat, müssten aber auch konservative Abweichler gegen ihre eigene Premierministerin stimmen. Ob es dazu kommt ist offen. Die Tories dürften kaum Interesse an einem neuen Urnengang haben: Laut der jüngsten Umfrage von Yougov liegen sie zwar vier Prozentpunkte vor Labour. Allerdings liefern sich beide Parteien seit Monaten ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Für May wären Neuwahlen das politische Aus: Sie hat im Dezember angekündigt, die Tories nicht wieder als Spitzenkandidatin anzuführen. Die Konservativen müssten in diesem Szenario also auch noch einen neuen Anführer wählen. Als aussichtsreiche Kandidaten gelten Ex-Außenminister Boris Johnson, Ex-Brexit-Minister David Davis oder Innenminister Sajid Javid.
Lösung 2: Das Volk muss entscheiden
Der zweite Weg wäre, nicht das Parlament aufzulösen, sondern das Volk abstimmen zu lassen. Auch das ginge aus Zeitgründen faktisch nur mit einem Aufschub aus Brüssel. Diese Lösung böte den Konservativen einen vergleichsweise einfachen Ausweg: Sie könnten an der Macht bleiben und die Verantwortung für den Brexit-Schlamassel auf das Volk abschieben.
Die Liberalen fordern schon lange ein zweites Referendum. Labour-Chef Corbyn will zwar lieber Neuwahlen, um die Macht zu erobern, hält sich die Option aber offen. Und auch Konservative spielen mit der Idee: "Wenn das Parlament nicht bald einen Brexit-Deal verabschiedet, müssen wir erkennen, dass das ursprüngliche Mandat zum EU-Austritt vor über zwei Jahren letztlich nicht mehr den derzeitigen Willen widerspiegelt", zitiert die "Sun" den Tory-Politiker Tobias Ellwood.
48 Prozent der Briten finden laut aktueller Umfrage von Yougov inzwischen, dass das damalige Votum falsch war: Überhaupt stimmte nur eine hauchdünne Mehrheit von 52 Prozent für den Brexit und fast ein Drittel der Wähler blieb zu Hause. 46 Prozent sind demnach heute für den Verbleib in der EU, nur noch 39 Prozent für den Brexit.
Einerseits könnte ein zweites Referendum Klarheit bescheren und es den Abgeordneten schwer machen, sich gegen den Willen des Volkes zu stellen. Andererseits würde das Votum das zerrissene Land noch weiter spalten. Was, wenn die Briten beim zweiten Mal tatsächlich für einen EU-Verbleib stimmen sollten? Wäre das Referendum von 2019 dann legitimer als das von 2016? Selbst viele Europa-Anhänger auf der Insel sind deshalb gegen eine neue Volksabstimmung.
Zumal es immer noch keine klaren Mehrheiten gibt. Und es darauf ankommt, über welche Alternativen abgestimmt wird: den vorliegenden Brexit-Deal, einen Austritt ohne Abkommen oder den Verbleib in der EU? Laut Yougov favorisiert immerhin der jeweils größte Teil der Briten (46 Prozent) den Verbleib in der EU sowohl gegenüber dem Brexit-Deal als auch gegenüber dem Chaos-Brexit ohne Abkommen.
Ergebnis: Exit vom Brexit - oder Chaos-Brexit?
Die Notbremse ziehen könnte Großbritannien problemlos: Laut Urteil des Europäischen Gerichtshofs dürfen die Briten den Austritt einseitig widerrufen. Alles bliebe wie es ist. Mehr als hundert EU-Parlamentarier appellieren in einem offenen Brief an London, genau das zu tun.
Für die britische Regierung wäre es das peinliche Eingeständnis, dass der Brexit ein Irrweg war - so wie es Kritiker von Anfang an gesagt haben. Nur falls sich die Briten in einem Referendum dafür aussprechen sollten, wäre der Rückzieher wohl eine Option. Ansonsten würden die Hardliner ihn als Kniefall vor Brüssel und jeden Regierungschef, der ihn umsetzt, als Verräter am Volkswillen brandmarken.
Gut möglich, dass es trotzdem so kommt. Denn sowohl Theresa May als auch Oppositionschef Jeremy Corbyn setzen darauf, dass Brüssel sich bewegt und sie das Abkommen substantiell neu verhandeln können. Doch das dürfte kaum passieren. Egal wer die britische Regierung nach der Brexit-Abstimmung führt, ohne Parlamentsmehrheit für den Deal dürfte sie oder er nur die historische Wahl haben: Brexit abblasen - oder beim Austritt ohne Abkommen Chaos riskieren.
Wie schlimm ein harter Brexit wird, weiß keiner. Natürlich wird Großbritannien am 29. März nicht plötzlich im Meer versinken. Doch selbst Mays Regierung rechnet mit einer Wirtschaftsflaute, viele Firmen haben wegen drohender Produktionsausfälle Notfallpläne in der Schublade. Brüssel und London bereiten sich seit Monaten auf den Tag X vor. Schlimmstenfalls könnte es kilometerlange Staus am Euro-Tunnel, Engpässe bei Medikamenten oder den Infarkt im Flugverkehr geben.
Die Hardliner halten den Sprung ins Ungewisse trotzdem für beherrschbar. "Es gibt keinen Grund für uns, Angst zu haben", sagt Ex-Brexit-Minister David Davis im "Spiegel". "Ich betrachte einen No-Deal nicht als nationalen Selbstmord", sagt Handelsminister Liam Fox. Heute Abend im Unterhaus haben sie Großbritanniens Schicksal in der Hand.
Quelle: n-tv.de
Tags: