Der Überlebende

  31 März 2016    Gelesen: 540
Der Überlebende
Imre Kertész fand eine Sprache für das Unsagbare. In seinem Werk ging es ihm um die literarisch ausgedrückte Wahrheit des Holocaust. Zum Tod des Nobelpreisträgers
Nur wenige kannten Imre Kertész, als im November 1989 die Mauer fiel. Damals lebte er zusammen mit seiner ersten Frau in einer 28 Quadratmeter großen Einzimmerwohnung in Budapest. Das wohl wichtigste Buch des späteren Literaturnobelpreisträgers, Roman eines Schicksallosen, war zwar 1975 in Ungarn erschienen, doch die Auflage verschwand bereits nach zwei Wochen aus den Buchhandlungen und landete in einem Lager vor den Toren Budapests. Auch Detektivgeschichte und der Roman Fiasko, die noch vor der Wende gedruckt wurden, nahm kaum jemand wahr. Erst als 1995 der Roman eines Schicksallosen in einer neuen deutschen Übersetzung erschien, bekam Kertész die Anerkennung, die er lange verdient hatte. Aber er bekam sie zunächst nicht in Ungarn, er bekam sie in Deutschland. Ursache hierfür war vor allem das Thema, das alle seine Bücher geprägt hat: Auschwitz und der Holocaust. "Die Deutschen und die Juden. Alle anderen haben es vergessen", schrieb er 2001 in sein Tagebuch Letzte Einkehr.

Kertész wurde 1929 geboren. Im Jahr 1944 verhaftete ihn die ungarische Gendarmerie auf dem Nachhauseweg, zusammen mit 17 weiteren vierzehn-, fünfzehnjährigen jüdischen Jungen. Bereits in der Nacht, während eines alliierten Luftangriffs, drohten die Gendarmen die in einem Kasernenhof hockenden Juden zu erschießen, sollte auch nur eine einzige Bombe fallen - zum Glück flogen die Bomber ein anderes Ziel an und Kertész blieb am Leben. Kurz darauf wurde er jedoch nach Auschwitz deportiert, dann nach Buchenwald, wo er nur durch ein Wunder überlebte und ihn 1945 die Amerikaner befreiten.

Es waren vor allem diese ungarischen Erfahrungen, die willig Eichmanns Vorgaben umsetzende Polizei, die Kertész den Holocaust als universale Katastrophe der europäischen Kultur begreifen ließ. In Ungarn hat es vielen nicht gefallen, dass er immer wieder auf dieses unaufgearbeitete Kapitel der Geschichte des Landes hingewiesen hat. Stattdessen ließ man nach 1989 Antisemiten und die offen faschistische Pfeilkreuzlerpartei, deren Anhänger während der deutschen Besetzung Ungarns Zehntausende Juden ermordet hatten, in aller Öffentlichkeit ihre Hassparolen ausbreiten. Die antisemitische Atmosphäre und die Einsicht, dass seine Leser vor allem in Deutschland leben, haben ihn und seine zweite Frau veranlasst, sich in Berlin 2001 eine Wohnung zu mieten. Von nun an pendelte er zwischen Berlin und Budapest hin- und her, was ihm Ungarns Rechte erst recht übel nahm.
Als Imre Kertész im Jahr 2002 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, beschimpfte man ihn auch in einer Zeitung, die der heute amtierenden Fidesz-Partei von Viktor Orbán nahesteht. Gleichzeitig waren in Ungarn jedoch nach der Bekanntgabe des Nobelpreises in wenigen Wochen mehr als 70.000 Exemplare seiner Bücher verkauft worden.

Das Leben Imre Kertész war ein Leben in einer Art Transitraum, ein Leben im ständigen Exil. Erst in Berlin ist er in den letzten Jahren ein wenig angekommen, hat die Offenheit und Multikulturalität der Stadt genossen. Wie er überhaupt das Gefühl hatte, in Deutschland gebraucht zu werden. "Ich habe das Gefühl", schrieb er in seinem Tagebuch, "in Deutschland eine Aufgabe zu haben; wie gering die Wirkung auch ist, die ein Schriftsteller haben kann, dort habe ich sie, was ich schreibe, fällt auf fruchtbaren Boden". Gleichzeitig hat ihn sein Leben im Abseits unabhängig gemacht, erst vom Regime des real existierenden Sozialismus, dann von der Gleichgültigkeit gegenüber Nationalismus und Antisemitismus in Ungarn nach der Wende. Erst durch diese Unabhängigkeit wurde sein radikales Werk in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seinen Folgen möglich.

Alltag und Hölle sind gleich

Eine Radikalität, die im Roman eines Schicksallosen zu einer Provokation gegenüber den konventionellen Darstellungen des Holocaust wurde. Nach Auschwitz, schrieb Kertész, könne man nicht mehr von Auschwitz in der Sprache von vor Auschwitz sprechen. Es gelte ein neue, atonale Sprache zu finden. Dreizehn Jahre hat er um diese neue Sprache gerungen, um dann die Geschichte seines vierzehnjährigen Erzählers, der in ein Vernichtungslager deportiert wird, aus der naiven Sicht eines Kindes zu erzählen, dem die Funktionsweise eines Vernichtungslager als logisch und einleuchtend vorkommt. Der Alltag und die Hölle waren nichts Verschiedenes, sondern dasselbe.

Kertész kam zu der Erkenntnis, dass mit Auschwitz die fabrikmäßige Ermordung von Menschen nicht allein zur deutschen, sondern auch zur europäischen Kultur gehört. Und dass auch uns Nachgeborenen deshalb das Bewusstsein des immer wieder möglichen Bankrotts dieser Kultur nicht mehr verlassen wird und darf.

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