Küssen und Sex sind auch nur Verdauungsprozesse

  12 Mai 2016    Gelesen: 772
Küssen und Sex sind auch nur Verdauungsprozesse
Die junge US-Autorin Alexandra Kleeman hat ihren Debütroman veröffentlicht. Die Heldin in "A wie B und C" leidet an einer Identitätskrise – und die äußert sich vor allem in einer massiven Essstörung.
Wer Kalbsschnitzel mag, sollte diesen Roman nicht lesen. Ein Mann namens Michael, eine Randfigur zwar, aber eine wichtige, ist nämlich großer Kalbsschnitzelfan. Eigentlich ist er noch größerer Fan lebender Kälber, weshalb es ihm das Herz bricht, dass die armen Tiere dicht gedrängt in Ställen stehen und sich nicht bewegen dürfen, damit das Fleisch zart bleibt. Für die Kälber kann er nichts tun, er ist schließlich nur ein Einzelner gegen das System der Massentierhaltung. Die Kalbsschnitzel aber, die kann er retten – indem er, der Kälberliebhaber, sie isst.

Also kauft er das Kalbfleischsortiment seines Supermarkts auf, bis er eines Tages mit einer Packung gefrorener Schnitzel einen armen Supermarktangestellten verprügelt, weil dieser ihn beim Kalbfleischklau erwischt hat. Das katapultiert ihn direkt in die großen Fernsehtalkshows des Landes und damit auf die Mattscheibe der Protagonistin in Alexandra Kleemans Debütroman "A wie B und C".

Die letzte Konsequenz des Essens ist der Tod

Um welches Land es sich handelt, bleibt offen, auch, zu welcher Zeit der Roman spielt. Wahrscheinlich jedoch ist besagte Hauptfigur, schlicht A genannt, in ihren 20ern (sie hat eine Mitbewohnerin und jobbt irgendwas mit Medien) und lebt in einer amerikanischen Vorstadt (der Fernseher läuft – ständig).

Sie leidet außerdem darunter, nicht zu wissen, wer sie wirklich ist. Ihre Mitbewohnerin B trägt zu dieser Identitätskrise bei, weil sie gern genauso wäre wie A. Und zu allem Übel sehen sich A und B auch noch zum Verwechseln ähnlich. C wiederum, der feste Freund von A, ist keine Hilfe bei der Bewältigung dieser Krise, wenn er behauptet, dass all die Probleme doch eigentlich keine seien.

So wie die Figur Michael durch den unerfüllbaren Wunsch, alle Kälber zu retten, eine Gier nach Kalbfleisch entwickelt, macht die Suche nach Individualität auch A hungrig. Emotional hungrig natürlich, aber dieser Hunger manifestiert sich zudem in einem ganz weltlichen, physischen Hunger. A ist besessen von Essen – oder besser: von dem Gedanken an Essen. Denn sie selbst und B ernähren sich fast ausschließlich von Wassereis.

Nicht etwa aus Angst vor einer Gewichtszunahme, sondern weil Essen in letzter Konsequenz immer zum Tod führt – so sieht es der natürliche Lauf des Nahrungskreislaufs vor: "Wenn ich zum Abendessen Spaghetti mit Fleischklößchen aß oder Nudelsuppe mit Huhn, dann ging ich mit der Sicherheit ins Bett, dass die Teilnahme am Fleischkreislauf bedeutete, eines Tages selbst gefressen zu werden, von etwas, das größer war als ich, oder vielleicht von ganz vielen Dingen, die bedeutend kleiner waren als ich."

A reduziert konsequent und permanent alles Emotionale auf das Physische, den Prozess des Essens und Verdauens – selbst Sex: "In meinem Speichel und dem meines Freundes warteten Enzyme ... Wenn er mich küsste, arbeitete ein Teil von ihm blind drauflos, meinen Körper zu zersetzen." Auch von B lösen kann sie sich erst, als sie deren Make-up zerstört und ihren Zopf isst. Ja, genau – das Haar, das B sich abgeschnitten hat, um A noch ähnlicher zu sehen, verschlingt diese in einem regelrechten Kampf um ihre Identität: "Es blockierte tief in meiner Kehle, blockierte die Schwelle, fest wie ein nasser Lappen."

Fressen und gefressen werden, darum geht es: "Das Leben ist ein Kampf, den man nur verlieren kann." Wiederkehrende surreale Werbespots nähren As Drang nach Selbsterfüllung und suggerieren ihr, diese sei käuflich – in Form sogenannter Kandy Kakes: Keksen, die hauptsächlich aus Chemie, etwas Mehl und Plastik bestehen.

Das Selbst lässt sich nur durch Make-up pimpen

Eine abgemagerte Katze bringt sich in jedem dieser Spots auf immer andere sadistisch-masochistische Weise schier um, um an einen dieser Kandy Kakes zu gelangen, und versagt jedes Mal, so wie A fast gewaltsam versucht, einzigartig zu sein, und sich dabei immer mehr in der Erkenntnis verliert, dass das "Selbst" eben doch nur ein Ergebnis zahlreicher chemischer Prozesse innerhalb des menschlichen Körpers ist, sich lediglich durch Ernährung und Make-up etwas pimpen lässt.

Das liest sich so abgefahren, wie es hier klingt. Erwartet man zunächst die x-te Abhandlung über die Problemchen der Generation Y – Kleeman selbst ist erst 29 Jahre alt, der autobiografische Anstrich also naheliegend –, merkt man schnell, dass dieser Roman keine Carpe-diem-Predigt ist, keine Zieh-an-was-du-möchtest-und-ernähre-dich-am-besten-vegan-Aufforderung.

Kleeman schreibt fast philosophisch über den Versuch, individuell zu sein in einer Gesellschaft, in der alle nach denselben Schönheitsidealen streben und deshalb immer irgendwie gleich sind. Der amerikanische Originaltitel des Romans lautet "You Too Can Have a Body Like Mine", übersetzt: "Du kannst auch so einen Körper haben wie den meinen". Manch einer wird danebengegriffen und fälschlicherweise einen Diätratgeber erwartet haben.

Und tatsächlich kupferte Kleeman den Titel von einer Diätwerbung ab, doch was sie schreibt, ist harte Konsumkritik: In der kapitalistischen Gesellschaft ist Individualität fast unmöglich. Das Ich ist eine beliebig austauschbare Kreation, basierend auf Kaufentscheidungen. A ist wie B ist wie C. Das Debüt der jungen Autorin ist klug und gesellschaftskritisch, eine Satire auf die Kosmetik- und Lebensmittelindustrie.

Ganz banales Sterben

Alles ist irgendwie überzogen, dystopisch gar, wenn A die endlosen, klinisch weißen Gänge eines Supermarktes durchstreift – "... lückenlos ausgefüllt mit Kalbfleisch, jeder Winkel mit Fleischpaketen vollgestopft, die feucht schimmerten wie Rosenquarz ... Ein bebendes Vulva-Pink, die Zahnfleischfarbe eines unschuldigen Kindes."

Satire ist auch, wenn A sich schließlich der "Kirche der Vereinigten Esser" anschließt, einer Sekte, deren Ziel es ist, aus der Futterkette und damit aus dem System auszubrechen und jeder Art weltlicher Nahrung zu entsagen. Zu essen gibt es fortan nur noch die synthetisch hergestellten Kandy Kakes.

Hier zeigt sich dann, dass Kleeman trotz aller Kritik an der Konsumgesellschaft kein Plädoyer für den Ausstieg aus derselben geschrieben hat. Im Gegenteil. Je weiter A sich von der Realität, dem angeblich so dunklen Leben, entfernt, desto näher kommt sie der schlichten physischen Vernichtung. Sie magert ab, bis sie kurz davor ist zu verhungern. Das hat nichts mehr mit Spiritualität zu tun, "das ist ganz banales Sterben". Wortwörtlich Selbstauflösung statt Selbsterfüllung. Überleben kann A nur, wenn sie sich wieder in den "Fleischkreislauf" einreiht, sich mit ihrem Platz in der Gesellschaft arrangiert.

Alexandra Kleeman schreibt intelligent und reflektiert. Der analytisch scharfe Blick fürs Detail, ihre Beschreibungen der Fress- und Verdauungsprozesse fesseln, lesen sich mitunter aber auch ungemein verstörend.

"A wie B und C" wurde in den USA sogar zu den verstörendsten Neuerscheinungen des vergangenen Jahres gezählt, ist stellenweise aber vor allem sehr amüsant – wenn auch, zugegeben, ein wenig Sadismus dazugehört, um die Lebenskrise von A mit Humor nehmen zu können. Am Ende geht es um eine Erkenntnis, über die man lachen oder verzweifeln kann, weshalb man sich wirklich besser fürs Lachen entscheiden sollte: Das Leben ist furchtbar, aber es läuft. Nur Kalbsschnitzel, die will man nach der Lektüre wirklich nie wieder essen.

Quelle : welt.de

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