In Saddams Folterburg toben jetzt Kinder

  25 Mai 2016    Gelesen: 677
In Saddams Folterburg toben jetzt Kinder
Früher ließ Saddam Hussein im Militärcamp von Akrê politische Gefangene foltern. Heute leben dort fast 1300 Flüchtlinge. Was passiert, wenn ein früherer Häftling auf die neuen Bewohner trifft?
"Irgendwo da hinten", sagt Sabah Kadir. Der 61-Jährige zeigt auf eine türkisblaue Wand, die mit gelben und roten Tauben verziert ist. Die Himmelsszene wird alle paar Meter von Türen unterbrochen, vor denen Vorhänge wehen. "Irgendwo da hinten", wiederholt Kadir. "Aber keine Ahnung, welche Tür meine ist."

Kadir kann die Stelle, an dem die grauenhafteste Zeit seines Lebens begann, nicht mehr finden. "Das ist ja alles nicht wiederzuerkennen", sagt er. Und schmunzelt.

Als Kadirs Jahre des Leids begannen, gab es an jener Wand keine türkisblaue Farbe. Es gab auch keine Vorhänge. Die Wand war erdfarben und die Türen mit Eisen und Holz versiegelt. Die Wand gehörte zum Zellentrakt im Innersten des Ortes, den die Menschen hier bis heute die "Festung" nennen.

Mit "hier" ist Akrê gemeint, ein 20.000-Seelen-Ort, der am Fuße einer Bergkette im Norden des Iraks liegt. In Akrê gibt es Wasserfälle, die lieblichste Bergluft, die man sich vorstellen kann – und mittendrin diesen Stein- und Betonkoloss. Mehrere Tausend Quadratmeter ist er groß. Die Fenster in den dicken Mauern erinnern an Schießscharten. An jeder Flanke ragt ein Wachturm in den Himmel.

Am 29. Dezember 1982 wurde Kadir hier eingesperrt. Vier Jahre lang wurde er festgehalten, gequält und gedemütigt - weil er für politische Kräfte arbeitete, die sich für mehr Unabhängigkeit der Kurden im Irak einsetzen und gegen das Regime von Saddam Hussein stellten.

Heute ist die Festung die neue Heimat für fast 1300 Menschen, die vor dem sogenannten Islamischen Staat (IS) geflohen sind. Mitarbeiter einer Hilfsorganisation malen dort mit syrischen Kindern jeden Freitag die dicken alten Mauern an. Vor allem, um eigene Traumata zu überwinden, aber auch, um jenem düsteren Ort den Schrecken zu nehmen.

Eine Seele wie eine Festung

Kadir gibt die Suche nach seiner Zelle auf. Er spaziert an den Wandmalereien vorbei. Dabei kommt er mit einem Flüchtling aus der syrischen Kurdenhochburg Qamischli ins Gespräch. Die beiden reden über Popmusik und lachen viel. Kadir geht weiter - am Mädchen im blauen Gewand vorbei, das sich beim Seilspringen so geschickt anstellt. Er macht einen großen Bogen um den einstigen Paradeplatz, auf dem nun ein Dutzend Jungs Fußball spielt. "Niemals hätte ich gedacht", sagt Kadir, "dass ich hier so etwas erleben würde."

Die Festung von Akrê wirkt heute wie ein Gleichnis auf Kadirs Seele. Einst war es düster darin, jetzt ist es bunt. Allerdings bei Weitem noch nicht so bunt, wie es sein könnte. Ein Großteil der Festung hat noch keinen neuen Anstrich. Hier und da blitzt noch Stacheldraht in der Sonne.

Für Kadir gilt: Er genießt sein Leben, hat eine große Familie, treue alte Freunde. Rachegelüste sind ihm fremd. Doch seine Erinnerung an jene Jahre ist wach. Und er weiß: Mit einem Besuch in der bunten Festung ist das Unrecht, das man ihm angetan hat, das Unrecht, das man Tausenden Kurden angetan hat, nicht wiedergutgemacht.

Kadirs Blick erhebt sich über die Festungsmauern und fällt auf die Bergkette, die sich dahinter abzeichnet. Er fängt an, zu erzählen.

Ende der 1970er-Jahre schloss Kadir sich der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) an. Er wurde Teil einer Zelle, die sich in einem Versteck in den Bergen traf.

Saddams Spitzel verdächtigten Kadir da bereits. Während seines Wehrdienstes war er dran. Ein vermeintlicher Kamerad stiftete Kadir an, regimekritische Lieder zu singen und zeichnete seine Stimme heimlich auf.

Saure Erinnerungen

Kadir erinnert sich noch genau: "Es waren sieben Männer, die kamen, mich zu holen", sagt er. "Es dauert nur fünf Minuten", hätten sie beteuert, als sie ihn in die Festung brachten. "Von wegen", sagt Kadir heute. Aus fünf Minuten wurde ein ganzer Nachmittag und auch der sollte nicht reichen.

Kadir krempelt seinen rechten Ärmel hoch. Er legt eine grobe, tropfenförmige Narbe frei. "Sie wollten, dass ich meine Leute verrate", erklärt er. "Aber aus mir war nichts rauszuholen."

Angekommen in der Festung, verbanden die Männer Kadir die Augen. Bis zu dem Moment, als er die Säure auf seinem Unterarm spürte, dachte er noch, Saddams Schergen würden nur bluffen. Verätzen, befragen, verätzen, befragen – bis sieben Uhr abends ging das so.

Die Männer hörten nicht auf, weil sie der Folter müde wurden. Sie hörten auf, weil Kadir ein gutes Gedächtnis hat. Die ganze Zeit dachte er sich, dass er die Stimme eines seiner Peiniger doch kenne. Als ihm endlich der Name des Mannes einfiel, ein Kerl, der wie er in Akrê aufgewachsen ist, schrie er ihn heraus. Die Männer hörten sofort auf und brachten Kadir in seine Zelle. "Die hatten Angst, dass sich unsere Leute irgendwann an ihnen rächen." Anders kann Kadir sich sein Glück - sofern in diesem Fall von Glück die Rede sein kann - kaum erklären.

Es dauerte nicht lange, bis Kadir erkannte, dass der brennende Schmerz der Säure nur einer dumpfen Qual weichen sollte, die kaum erträglicher war. Kadir teilte sich die Zelle mit einem Mann, der beinahe sein Bein verlor, weil es nicht behandelt wurde. "Da steckten 20 Kugeln drin und niemand half dem Mann." Er sah, wie ein anderer Häftling nach ein paar Tagen mit heftigen Bauchschmerzen auf den Boden fiel und nie wieder aufstand. Da verstand Kadir, wozu das Regime imstande war. Er lebte "mit der Hand auf dem Herzen", wie es ein kurdisches Sprichwort besagt.

Nach drei Monaten und einer Verurteilung wegen Beleidigung des Staatsoberhauptes und der Mitgliedschaft in einer unerlaubten Organisation verlegten Saddams Männer Kadir nach Abu Ghraib. Das Lager in der Nähe Bagdads war schon lange vor den US-Amerikanern berüchtigt. Und Kadir landete ausgerechnet dort, wohin Saddam seine schiitischen Erzfeinde verfrachtete – im Keller, ohne Tageslicht.

Kadir blickt kurz auf den Boden. Dann winkt er ab und sagt: "Ach, das glaubt mir doch eh keiner." Er versucht trotzdem nachzustellen, wie er damals im Keller gelebt hat. Kadir kauert sich zusammen und verdreht Arme und Beine. "Unsere Zelle war vier mal vier Meter groß", sagt er. "Manchmal waren wir mit 60 Menschen drin." Eine Kochstelle und ein Loch für die Fäkalien mit rund 70 Zentimetern Durchmessern habe auch noch irgendwie reinpassen müssen. "Als ich das erste Mal wieder Tageslicht sah, bin ich ohnmächtig geworden", sagt er.

Während Kadir das so erzählt, lächelt er viel. Das wirkt nur anfangs verstörend. Dann glaubt man zu verstehen, dass man auf diese Masse an Widerwärtigkeiten, die Kadir durchlebt hat, gar nicht anders reagieren kann, wenn man nicht daran zerbrechen will.

Saddams großer Beutezug

Nach knapp einem Jahr im Keller und drei weiteren in einem anderen Trakt von Abu Ghraib wurde Kadir am 28. April 1986 begnadigt. Das Regime war sich offenbar sicher, ihn gebrochen zu haben. Denn seine Freilassung fiel in eine Zeit, in der sich Saddam und seine Männer langsam daranmachten, die Kurden-Frage ein für alle Mal zu lösen – mit einer Operation, die unter dem Namen "Anfal" (Beute) in die Geschichtsbücher eingehen sollte.

In der Hoffnung auf ein Ende ihrer Unterdrückung schlugen sich die irakischen Kurden im ersten Golfkrieg auf die Seite des Irans. Für Saddams Regime waren sie damit endgültig "Volksfeinde". Der Diktator beauftragte seinen General Ali Hasan al-Madschid mit jener Operation, die heute mehrere Staaten als Völkermord einstufen. Bei massiven Militärschlägen, Massenexekutionen und Vertreibungen verloren kurdischen Schätzungen zufolge bis zu 180.000 Menschen das Leben. General al-Madschid wurde als "Chemie-Ali" bekannt, weil er auch vor dem Einsatz von Giftgas auf Zivilisten nicht zurückschreckte. Tausende, die nicht starben, landeten Ende der 1980er-Jahre wie Kadir in Kerkern.

"Ich hatte genug Gewalt erlebt", sagt Kadir heute. Er hielt sich aus der Politik heraus, nahm einen Job als Elektriker in einem Krankenhaus an, obwohl ihm die PDK fast das doppelte Gehalt für ein prestigeträchtiges Amt in den Reihen der kurdischen Kämpfer bot. Verbunden blieb Kadir seiner PDK nur im Geheimen. Bis zum Jahr 2003, als die US-Streitkräfte Saddam stürzten, sollte das so bleiben.

Die Zahl der Opfer wird immer größer

Die Verkörperung der Gründe dafür, dass Kadir mit Saddams Kerkern auch Jahrzehnte nach dem Ende seines Martyriums nicht einfach abschließen will, sitzt vor Tellern mit Lammspießen, Humus und Bohnensuppe. Kadir hat Ramzi Rashid und Nawzad Hassan zum Essen eingeladen. Sie sind nicht nur zwei vertraute Freunde, sondern auch Leidensgefährten. Die Geschichten, die sie über ihre Qualen in Saddams Gefängnissen berichten, sind kaum erträglicher als die Erzählungen Kadirs.

"Es ist nicht leicht, so etwas zu überleben", sagt Ramzi, der zwei Jahre in Abu Ghraib verbringen musste. Anders als Kadir floh er nach Österreich, als er aus dem Gefängnis kam. Erst als seine Heimat wieder einigermaßen sicher für ihn war, kehrte er zurück. Dann musste er von vorn anfangen. Nur womit? Ramzi fand Hilfe bei seinem Freund Kadir.

Kaum war das Saddam-Regime weg, steckte Kadir all seine Kraft in einen Verein, der sich um die Opfer der Anfal-Operation kümmerte. Er wurde Vorsitzender für den Standort in seiner Heimat Akrê. Auch dank Kadirs Arbeit steht mittlerweile jedem politischen Gefangenen aus jenen Tagen ein monatliches Gehalt, ein Stück Land, sogar ein paar Dinar für die erste Hochzeit zu. Dem Verein sind derzeit rund 16.000 Kurden bekannt, die einen Anspruch auf diese Leistungen haben könnten. Kadir kämpft dafür, dass sie ihr Geld auch wirklich kriegen. Das ist seit der Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat (IS), dem einbrechenden Ölpreis und einer bedrohlichen Wirtschaftskrise im irakischen Kurdistan längst nicht mehr selbstverständlich. "Ich hab seit fünf Monaten nichts mehr bekommen", klagt Ramzi. "Ich bin völlig hilflos."

Aber nicht nur das ärgert Kadir. Er sagt: "Die Männer, die im kurdischen Bürgerkrieg festgenommen wurden, wurden bis heute nicht als politische Gefangene anerkannt." Ramzi und Hassan nicken.

Nicht nur Saddam sperrte Kurden unter erbärmlichen Bedingungen ein. Kurden taten sich das auch gegenseitig an. Mitte der 1990er-Jahre eskalierte der historische Disput zwischen den beiden großen politischen Lagern, der PDK und der PUK und der mit ihnen verbundenen Familien, der Barzanis und der Talabanis. Es heißt, die PDK habe PUK-Anhänger und andere politische Gegner in Akrê eingesperrt, sie habe einige dort hinrichten und in Massengräbern verscharren lassen. Die PUK habe dasselbe mit ihren Gegnern auf einem alten Stützpunkt auf dem Azmar-Berg getan. Beweise für diese mörderischen Taten fehlen. Die Ereignisse wurden noch nicht hinreichend aufgeklärt. Doch es gibt Überlebende, und die warten bis heute vergeblich auf Wiedergutmachung.

Nach Angaben von Kadirs Verein hat das zuständige Komitee, das diesen Teil der kurdischen Geschichte aufarbeiten soll, sein Wirken gerade wegen der Wirtschaftskrise eingestellt. Kadir sagt, er wisse nicht, ob man schnell mit Entschädigungen für die Opfer rechnen sollte. "Über Geld zu reden, ist gerade nicht leicht." Er hält einen Moment inne, lächelt erneut und fügt hinzu: "Ich habe mir aber auch nie vorstellen können, in der Festung von Akrê Kinderbilder zu sehen."


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