Politisch zerrissene Briten stimmen über “Brexit“ ab

  22 Juni 2016    Gelesen: 960
Politisch zerrissene Briten stimmen über “Brexit“ ab
Schicksalswahl für die Europäische Union: Am Donnerstag entscheiden 46,5 Millionen Briten über den Verbleib ihres Landes in der EU.

Auch die letzten Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen EU-Befürwortern und Gegnern voraus. "Es ist sehr eng, niemand weiß, was passieren wird", warnte Premierminister David Cameron am Tag vor dem Referendum in der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas. Bei einem Brexit drohen Schockwellen an den Börsen - weltweit stehen deshalb Notenbanken bereit, um Währungsturbulenzen abzufedern. Die Deutschen wünschen sich, dass die Briten bleiben - und würden selbst mit überwältigender Mehrheit für einen Verbleib in der Europäischen Union stimmen.

Die Wahllokale in den 382 Zählbezirken öffnen um 06.00 Uhr (08.00 Uhr MESZ) und schließen um 21.00 Uhr (23.00 Uhr MESZ). Ausgezählt wird in der Nacht. Wegen der hohen Fehleranfälligkeit sind von den TV-Sendern am Abend keine Prognosen geplant. Mit dem offiziellen Ergebnis wird ab 06.00 Uhr (08.00 Uhr MESZ) früh gerechnet, vorher könnte es bereits Teilresultate geben.

Die Wahlumfragen zeichnen seit Wochen ein Patt in der über den Brexit tief gespaltenen Bevölkerung. Etwa zehn Prozent der Befragten sind noch unentschieden. Experten mutmaßen, dass der Mord an der pro-europäischen Abgeordneten Jo Cox vor einer Woche den EU-Befürwortern noch einmal Auftrieb gegeben haben könnte. Wie zuverlässig die Umfragen sind, ist unklar. Beim Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands im September 2014 hatten sie daneben gelegen. Deshalb wird von vielen auch auf die Buchmacher geschaut: Der Wettanbieter Betfair ermittelte zuletzt eine Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent für einen Verbleib in der EU.

WAHLKAMPAGNEN DREHTEN NOCH EINMAL VOLL AUF

Auf den letzten Metern kämpften Brexit-Anhänger und EU-Befürworter mit harten Bandagen um die Unentschlossenen. Londons Bürgermeister Sadiq Khan warf seinem EU-kritischen Vorgänger Boris Johnson in einer TV-Debatte aus dem Webley-Stadion eine "Hass-Kampagne" gegen Immigranten vor. Johnson, der als möglicher Nachfolger von Premierminister Cameron gilt, falls dieser wegen eines Brexit-Votums zurücktreten sollte, konterte: "Dieser Donnerstag kann zum Unabhängigkeitstag unserer Nation werden."

Die Kampagne der EU-Befürworter "Britain Stronger in Europe" projizierte auf berühmte Bauwerke im ganzen Land den Schriftzug "Vote Remain" ("Stimmt für einen Verbleib") und die Farben der britischen Flagge. Dazu zählten die Tate Modern in London und Edinburgh Castle. Dagegen schlug sich mit der "Daily Mail" die zweitgrößte Zeitung ins Brexit-Lager und empfahl ihren Lesern am Tag vor der Wahl: "Lügen. Gierige Eliten. Oder eine große Zukunft außerhalb eines kaputten, sterbenden Europa... Wenn Sie an Großbritannien glauben, dann stimmen Sie für einen Austritt."

VON OBAMA BIS MERKEL - ALLE GEGEN EINEN BREXIT

Cameron hat sich für einen Verbleib in der EU stark gemacht. "Wenn wir gehen, verkleinern wir unser Land und unsere Möglichkeiten, Einfluss in der Welt zu nehmen", sagte er in Bristol. Der "Financial Times" sagte er, sollten die Briten für die EU stimmen, erwarte er einen Investitionsschub. Formell ist Cameron nicht an den Ausgang des Referendums gebunden. Er hat aber angekündigt, sich nach Volkes Willen richten zu wollen. Die letzte Entscheidung hätte allerdings das britische Unterhaus.

Weltweit haben Politiker an die Briten appelliert, in der EU zu bleiben, darunter US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Vertreter von EU-Institutionen hatten wiederholt klargemacht, dass es keinen Weg zurück gäbe.

Die Chefs von 51 der 100 im britischen Börsenleitindex FTSE gelisteten Firmen und 1285 weitere Unternehmer warben in einem Brief an die "Times" für einen Verbleib in der EU. Für sie würde ein Brexit weniger Handel mit der EU und weniger Arbeitsplätze bedeuten. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von fast drei Billionen Dollar ist Großbritannien die zweitgrößte Volkswirtschaft in der EU nach Deutschland. Außerdem ist das Vereinigte Königreich neben Frankreich eine von zwei Atomwaffenmächten in der EU und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

Die Möglichkeit eines Brexit hat weltweit Sorgen vor schweren Turbulenzen an den Finanzmärkten und einem Absturz des britischen Pfunds ausgelöst. US-Notenbankchefin Janet Yellen hatte am Dienstag vor "erheblichen wirtschaftliche Konsequenzen" gewarnt. EZB-Präsident Mario Draghi hatte gesagt, die Zentralbank rüste sich mit Notfallplänen für einen Brexit.

DEUTSCHE WOLLEN EU UND IHRE BRITISCHEN NACHBARN BEHALTEN

Die Schockwellen eines Brexit wären wohl auch in Deutschland zu spüren. Dem Münchner Ifo-Institut zufolge fürchten 38 Prozent der Firmen im deutschen Verarbeitenden Gewerbe negative Folgen für ihr Geschäft. Keine Auswirkungen erwarten knapp 61 Prozent.

Wenn die Deutschen wie die Briten die Wahl hätten, die EU zu verlassen oder zu bleiben, wäre das Ergebnis wohl eindeutig. Nach einer Forsa-Umfrage für den "Stern" würden sich 79 Prozent der Bundesbürger für die EU entscheiden und nur 17 Prozent für einen Austritt stimmen. Eine Mehrheit der deutschen will zudem nicht ihre britischen EU-Mitbürger missen: 54,4 Prozent der Deutschen lehnten in einer Insa-Umfrage für die "Bild" einen Brexit ab. Nur jeder sechste würden einen Brexit begrüßen.


Quelle: reuters.com

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