Brexit schreckt Europa auf - EU ringt um Einheit

  24 Juni 2016    Gelesen: 897
Brexit schreckt Europa auf - EU ringt um Einheit
Das Brexit-Votum versetzt europäische Regierungen und die EU-Spitze in Alarmzustand: Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte am Freitag ebenso wie andere Regierungschefs und EU-Ratspräsident Donald Tusk, ein "weiter so" dürfe es nicht geben.

"Es gibt nichts drumherum zu reden: Der heutige Tag ist ein Einschnitt für Europa, er ist ein Einschnitt für den europäischen Einigungsprozess", sagte die Kanzlerin in Berlin. In Großbritannien kündigte ein sichtlich bewegter Premierminister David Cameron seinen Rücktritt an. Er zog damit die Konsequenzen aus dem Referendum über den Verbleib in der EU, den 51,89 Prozent der Wähler abgelehnt hatten. 48,11 Prozent wollten in der EU bleiben. An den Börsen löste das Nein der zweitgrößten europäischen Volkswirtschaft zur EU drastische Kursverluste aus. Das britische Pfund stürzte auf ein 30-Jahres Tief.

Merkel warnte vor voreiligen Beschlüssen, die Europa weiter spalten könnten. Frankreichs Präsident Francois Hollande sagte, die EU dürfe nun nicht zur Tagesordnung übergehen. Ähnlich äußerten sich Polens Präsident Andrzej Duda und Italiens Außenminister Paolo Gentiloni. Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy versicherte, sein Land bleibe der EU verpflichtet. In Spanien stehen kommenden Sonntag vorgezogene Neuwahlen an. Dort haben EU-kritische Linkspopulisten in Umfragen zulegen können. Rechtspopulisten in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden sehen sich durch das Referendum bestätigt und forderten ihrerseits einen Volksentscheid über den Verbleib in der EU.

"KURZFRISTIG WIRD SICH NICHTS ÄNDERN"

Schon am Freitagmorgen lief eine eng getaktete Krisendiplomatie an: In Brüssel trafen sich die Präsidenten der drei EU-Institutionen, in Luxemburg berieten die Außenminister unter anderem von Deutschland und Frankreich die Folgen. Am Samstag werden die Außenminister der sechs EU-Gründerstaaten in Berlin zusammentreffen. Für Montag lud Merkel Tusk, Hollande und Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi nach Berlin ein.

Der eigentliche Sieger des Referendums in Großbritannien, der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, sieht keinen Grund zu Eile. "Kurzfristig wird sich nichts ändern", sagte der aussichtsreichste Kandidat für die Cameron-Nachfolge. Dagegen forderten die EU-Institutionen die britische Regierung auf, das Referendum so rasch wie möglich umzusetzen. Allerdings ist das Vereinigte Königreich nun selbst von Spaltung bedroht. Die schottische Regierung schloss ein neues Referendum über einen Austritt nicht aus, um weiterhin der EU angehören zu können. Eine Mehrheit der Schotten hatte gegen den Brexit gestimmt. Auch die pro-irische Sinn Fein in Nordirland will für einen Austritt werben. Ziel ist eine Vereinigung mit dem EU-Mitglied Irland.

Zu den wenigen internationalen Stimmen, die den Brexit begrüßten, zählte der designierte Kandidat der Republikaner für die US-Präsidentenwahl, Donald Trump. Die Briten hätten die Kontrolle über ihr Land zurückgewonnen, sagte er bei der Eröffnung eines Golf-Hotels in Schottland. Der Zerfall der EU habe begonnen.

REGIERUNGSERKLÄRUNG MERKELS AM DIENSTAG

Die EU steht vor ihrer bislang größten Herausforderung. Die schwierige Trennung von Großbritannien wird voraussichtlich mindestens zwei Jahre dauern und kann für eine anhaltende Verunsicherung der Märkte sorgen. Mit Großbritannien verliert die EU nicht nur eine starke Volkswirtschaft und eine mit Atomwaffen ausgerüstete Militärmacht. Großbritannien ist auch global ein Schwergewicht mit Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat und engen Verbindungen zu den USA.

Auch Berlin schaltete in den Krisenmodus: Unions- und SPD-Fraktion beriefen noch am Freitag Sondersitzungen ein. Der Bundestag wird am Dienstag zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Dann ist auch eine Regierungserklärung Merkels geplant.

In mehreren Mitgliedsstaaten forderten rechtspopulistische Bewegungen ein Referendum nach britischen Vorbild. Dazu zählten in Frankreich der rechtsextreme Front National und in den Niederlanden der Rechtspopulist Geert Wilders. In Deutschland sprach sich der einflussreiche AfD-Politiker Björn Höcke dafür aus. Rechtspopulisten sind in fast allen EU-Staaten im Aufwind und wollen ihre Länder gegen Migranten abschotten. Auch in Großbritannien sprachen die Brexit-Befürworter fremdenfeindliche Ressentiments an, indem sie der EU die Verantwortung für den ungebremsten Zuzug von Ausländern zuschoben.

WIRTSCHAFT UND HANDEL VON BREXIT GESCHOCKT

Die deutsche Wirtschaft fürchtet massive Einbußen und Schäden auch für die Unternehmen. Außenhandelspräsident Anton Börner sprach von einer Katastrophe, DIHK-Präsident Eric Schweitzer von einem "Schlag ins Kontor" der deutschen Wirtschaft. "Die Entscheidung schwächt das Vereinigte Königreich selbst, die EU und Deutschland - und zwar politisch wie wirtschaftlich", sagte der Hauptgeschäftsführer des Industrieverbandes BDI, Markus Kerber.

Der Kurs des Pfund Sterling stürzte um bis zu 11,1 Prozent ab und lag mit 1,3232 Dollar zeitweise so niedrig wie zuletzt im September 1985. Der Euro fiel um bis zu 4,1 Prozent auf ein Dreieinhalb-Monats-Tief von 1,0914 Dollar. Der Londoner Auswahlindex FTSE lag am Nachmittag mehr als vier Prozent niedriger als am Vortag, der Frankfurter Dax lag mehr als sieben Prozent im Minus. Unter Druck gerieten vor allem Titel europäischer Großbanken.

Quelle: reuters.com

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