Die trügerische Ruhe vor dem Knall

  28 Juni 2016    Gelesen: 660
Die trügerische Ruhe vor dem Knall
Für die EU geht es ans Eingemachte. Noch nie hat ein Mitglied die Union verlassen. Der Schock in Brüssel sitzt entsprechend tief – und britische EU-Beamte beantragen die belgische Staatsbürgerschaft.
Die Nacht zum Montag war unruhig für die Spitzeneuropäer in Brüssel. EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte bis spätabends telefoniert, an Schlaf war nicht zu denken. Gegen Mitternacht dann erhöhte die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, den Druck noch mehr: "Die politisch Verantwortlichen sind hochgradig gefordert, gemeinsam und in hoffentlich positiver Weise auf die Situation zu antworten." Andernfalls drohten erhebliche Risiken für die Weltwirtschaft.

Die "Situation"? Das war bewusst untertrieben. Es geht ans Eingemachte. Noch nie hat ein Mitgliedsland die EU verlassen. Seit vergangenem Freitag ist das anders: Das Vereinigte Königreich tritt aus der EU aus. Ein Fiasko für Brüssel. Der Schock sitzt tief.

Was tun? Reflektieren? Handeln? Schweigen? Das ganze Wochenende über verharkten sich europäische Spitzenpolitiker und die Regierung in London vor der gesamten europäischen Öffentlichkeit in Rangeleien über die Frage, wann die Briten denn nun die Scheidungsverhandlungen einläuten sollten.

Jetzt ist klar: Vor September oder Oktober wird das nichts. London will bis dahin entscheiden, was man künftig eigentlich genau will. Die Europäer hatten aufs Tempo gedrückt, aber sie können nichts machen. Eins zu null für die Briten. Aber was heißt das schon?

Tusk auf Krisentour durch Europa

Die Woche eins nach der Brexit-Entscheidung beginnt an diesem Montag bei grauem Himmel und Dauerregen. Tusk macht sich am Morgen schon früh auf den Weg, er muss um 11 Uhr in Paris sein. Ein Treffen mit Frankreichs Staatspräsident François Hollande. Direkt danach geht es weiter ins Bundeskanzleramt nach Berlin.

Es ist eine Krisentour durch Europa. Tusk will von den beiden wichtigsten EU-Ländern wissen, wie es weitergehen soll. "Ich bin mir vollkommen darüber im Klaren, wie ernst, sogar dramatisch der Augenblick ist", hatte Tusk kurz zuvor gesagt. Dann erinnerte er an eine alte Weisheit seines Vaters: "Was dich nicht umbringt, macht dich härter."

Es gibt an diesem Tag unzählige Treffen in Brüssel: Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini empfängt am Mittag US-Außenminister John Kerry. Ein Blitzbesuch aus Amerika. Es sei "absolut entscheidend, dass wir konzentriert bleiben, dass niemand den Kopf verliert", sagt Kerry. Er warnt die Europäer, "rachsüchtig" oder "vorschnell" mit London umzugehen.

Um 15 Uhr trifft sich die EU-Kommission im Berlaymont-Gebäude zu einer Sondersitzung. Im Parlament nur wenige Hundert Meter entfernt Dauerkrisengespräche. Alle haben nur ein Thema: Wie geht es weiter nach dem Brexit? Aber die wichtigsten Gespräche führt Tusk – in Berlin und Paris.

Sehnsucht nach Einigkeit und Entschlossenheit

Danach ist klar: Die wichtigsten Botschaften im Moment lauten Einigkeit und Entschlossenheit. Es gab am Wochenende Störfeuer. Belgiens Regierung hatte gefordert, mit den Scheidungsverhandlungen sofort zu beginnen – auch ohne einen formalen Antrag aus London. Tschechiens Außenminister Lubomir Zaoralek hatte gar den Rücktritt von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker gefordert, weil er angeblich für das Brexit-Votum mitverantwortlich sei.

Noch im Laufe des Montags hatte ein einflussreicher EU-Spitzendiplomat in kleiner Runde gegen die EU-Kommission gepestet: "Der Brexit ist ein Weckruf. Die EU-Kommission muss sich ändern. Sie darf nicht immer mehr voranschreiten, unabhängig davon, was die Mitgliedsstaaten wollen. Wenn wir diesen Moment verpassen, dann viel Glück."

Tusk und Merkel wollen solche Debatten im Keim ersticken. Am Dienstag und Mittwoch treffen sich die EU-Staats- und -Regierungschefs. Dann soll alles seine Ordnung haben, soweit das überhaupt möglich ist.

Kühle Worte, trockene Bekenntnisse

Jim Cloos leistet dazu einen bedeutenden Beitrag. Der altgediente Vizegeneraldirektor in der Vertretung der EU-Länder, dem Rat, sitzt in seinem Büro im Justus-Lipsius-Gebäude. Er arbeitet an den Schlusserklärungen für das Gipfeltreffen.

Es sind keine wegweisenden Botschaften, die der Luxemburger an diesem Tag zusammen mit den Rechtsexperten des Hauses im Auftrag der EU-Staaten verfasst. Sie lauten in etwa so – erstens: Die EU respektiert das Referendum in Großbritannien. Zweitens: Die EU bedauert das Ergebnis. Drittens: Die EU steht zusammen und bekennt sich zu den europäischen Werten. Viertens: Die EU arbeitet an einer künftigen konstruktiven Zusammenarbeit mit Großbritannien.

Es sind kühle Worte. Trockene Bekenntnisse. Aber es sind keine Leitlinien für die Verhandlungen mit London und keine Exkurse über die Lehren aus dem Votum der Briten. Worte ohne Kompass.

Es ist vielmehr der Versuch, die Fassungslosigkeit und die Erschütterungen der vergangenen Tage in ein bürokratisches Korsett zu gießen, das ein wenig Halt gibt. Die Europäer haben mit dieser Technik bei Krisen in der Vergangenheit ganz gute Erfahrungen gemacht. Aber ob das dieses Mal klappt? Diese Krise ist einzigartig.

Merkel will Ruhe – und keinen Streit

Tusk gehen die Entwicklungen dieser Tage sehr nahe. Er ist aufgewühlt. Er, der Osteuropäer und ehemalige Solidarnosc-Kämpfer, ahnt, dass der Austritt Großbritanniens unkontrollierbare Folgen für ganz Europa haben kann.

Am vergangenen Freitag, kurz nach Bekanntwerden des Brexit, hatte der Pole den Europäern starke Sätze ins Stammbuch geschrieben: "Besessen, wie wir waren von der Idee sofortiger und völliger Integration, haben wir übersehen, dass gewöhnliche Leute unseren Euro-Enthusiasmus nicht teilen."

Es gibt eine ganze Reihe hochrangiger EU-Politiker, die das anders sehen. Sie wollen mehr Europa, mehr Verzahnung und mehr Vertiefung. Aber sie schweigen an diesem Montag. Ebenso Tusk.

Dies ist nicht der Zeitpunkt für Grundsatzdebatten. Das denkt vor allem Merkel. Sie will Ruhe – und nur keinen Streit. Der Zusammenhalt in der EU müsse gestärkt werden und nicht "die Fliehkräfte, die Zentrifugalkräfte", sagt Merkel in Berlin nach einem Treffen mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Wolodymyr Hrojsman.

Das ist die Marschrichtung. Daran haben sich in diesen Tagen alle in Brüssel zu halten. Tusk, Juncker und auch Martin Schulz, der selbstbewusste Präsident des EU-Parlaments.

Aber es ist eine trügerische Ruhe. Die EU-Matadoren werden nicht lange schweigen. Der Kampf für die richtige Richtung schwelt unter der Oberfläche weiter. Die Grundsatzdebatte über die Zukunft Europas wird schon bald explodieren.

Briten wünschen sich belgischen Pass

Mittagessen mit einem Topbeamten der EU-Kommission im Restaurant "Stirwen" am Place Jourdan am Rande des Europaviertels. Der Mann arbeitet seit mehr als 30 Jahren für die Kommissionsbehörde. "Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass es so weit kommt. Die EU steht am Abgrund."

Wie ist die Stimmung unter den Beamten? Der Mann stochert in seinem Oktopussalat mit Zucchiniblüten. "Uns sitzt allen der Schock in den Gliedern. Es gibt in den Büros und auf den Fluren nur ein Thema: den Brexit. Wir wissen nicht, wie es mit dieser Union weitergehen wird. Wir dachten immer, es geht voran. Jetzt herrscht überall Unsicherheit." Pause.

Dann sagt der Beamte mit leiser Stimme: "Wissen Sie, wir haben alle mit Begeisterung für die europäische Sache gearbeitet. Und jetzt wird sehr viel davon infrage gestellt."

Der Mann berichtet von zahlreichen britischen Kommissionsbeamten, die versuchen, eine belgische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Sie wollen in der Kommission bleiben und Karriere machen – das geht jetzt nur noch ohne einen britischen Pass.

Irgendwann wird es auch mal richtig knallen

Der britische EU-Kommissar für Finanzmarktangelegenheiten, Jonathan Hill, wird schon in Kürze sein Büro räumen. Er informiert sein Team, es fließen Tränen. "Wir haben alle gewusst, dass das Referendum auch negativ ausfallen konnte", heißt es in seinem Umfeld. "Aber irgendwie hat man am Ende doch nicht daran geglaubt."

Viele in Brüssel gehen jetzt durch ein Wechselbad der Gefühle. Sie wissen nicht so richtig, ob sie wütend, traurig oder kämpferisch sein sollen. Und jeder zieht seine eigenen Lehren aus dem Brexit. Juncker, der alte Fuchs, ahnt, dass die Trennung von Großbritannien keine "einvernehmliche Scheidung" werden wird.

Im Klartext heißt das: Irgendwann wird es auch mal richtig knallen. Auch Herbert Reul (CDU), der einflussreiche Chef der deutschen Christdemokraten im EU-Parlament, macht sich seine Gedanken: "Die Welt wartet nicht auf Europa. Für Traumtänzereien ist nun wirklich der falsche Zeitpunkt."

Quelle : welt.de

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