Er wäre tot.
"Es war", erinnert er sich, "ein schöner Frühlingsabend im März 2002. Doch ich nahm nichts mehr davon wahr. Ich stand auf einer Autobahnbrücke. Mit einem Bein war ich über dem Geländer. Ich hatte keine Hoffnung mehr. Ich sehnte mich nur noch danach, von diesem Gefühl, oder besser von diesem Nicht-Gefühl, von meiner Depression, erlöst zu werden. Ich wollte ins Nichts springen."
Er sprang nicht. Was dazwischenkam? "Ein winziger Funken Restvernunft, weiß der Himmel woher."
Mit der letzten Kraft, die ihm diese höhere Macht schenkte, ging der Hoffnungslose zurück auf den Parkplatz, stieg ins Auto - und fuhr wieder nach Hause, wo ein Leben auf ihn wartete, um das ihn alle Welt beneidete. Eine wunderbare Frau. Vier gesunde Kinder. Eine intakte Familie. Er war berühmt, er war Olympiasieger und Weltmeister und beruflich erfolgreich - alle hielten ihn für einen vom Glück Geküssten.
Warum will so einer tot sein?
Eine Antwort auf diese Frage versuchte ein Porträt des Fechters Matthias Behr, der sein Leben wegwerfen wollte, in der ARD zu geben. Es ist die Dokumentation einer Tragödie.
"Ich habe gespürt, wie die Waffe durch die Maske ging"
Wir sitzen vor dem "Cafe-Bistro" im Klosterhof in Tauberbischofsheim. Behr nippt an einem Cappuccino, und die Sonne scheint. Damals, im Tunnel seines Lebens, war es stockdunkel. Er wollte nicht mehr. "Ich hatte zu nichts mehr Lust, kein Interesse an einem Gespräch, an der Zeitung, an der Musik. Ich hatte keinen Appetit mehr. Ich konnte nicht mehr arbeiten, ich wollte nur noch schlafen. Finstere Gedanken waren in meinen Geist eingezogen. Ich ließ die Rollläden runter und saß im Dunkeln."
Es waren Dinge passiert, die ihn die Lebenskraft kosteten. Vor allem das eine. "Dieser Moment", sagt Behr, "ist jetzt noch in mir präsent, als wäre es vor fünf Minuten gewesen." Dabei ist es ein halbes Leben her.
Rom, 19. Juli 1982. Im WM-Viertelfinale treffen die deutschen Florettfechter auf die sowjetischen, und es kommt zum Duell der Meister. Auf der einen Seite der Planche: Matthias Behr, 27 Jahre alt, Olympiasieger 1976, Weltmeister 1977, Weltcupsieger 1978. Vis a vis sein Gegner: Vladimir Smirnov, 28 Jahre alt, zweifacher Olympiasieger 1980, zweimaliger Weltmeister 1981.
"Er war mein Freund", sagt Behr.
Sie starten eine "Attaque Simultanee", einen gleichzeitigen Angriff. 85 Kilo prallen auf 85 Kilo, und dann geht alles ganz schnell. Behr trifft Smirnov im oberen Brustbereich, die Klinge bricht ab, und das Florett ist nicht mehr beherrschbar und die Vorwärtsbewegung nicht mehr zu kontrollieren. "Ich habe gespürt", sagt Behr, "wie die Waffe durch die Maske ging." Der Rest der Tragödie ist verschwunden hinter dem Nebelschleier seiner Erinnerung. Die Klinge dringt in Smirnovs Auge ein und verletzt das Gehirn.
Der Getroffene bricht zusammen, liegt am Boden, überall Blut. Während sich Trainer, Betreuer und Ärzte um Smirnov kümmern, rennt Behr im Schock bis auf die Tribüne und schreit: "Nein! Nein! Nein!" Sein Bruder Jochen, der Assistent von Bundestrainer Emil Beck, nimmt ihm die blutverschmierte Waffe schließlich ab.
Zu sensibel, um die Tragödie zu verkraften
Behr weint. Er ist gelähmt vor Entsetzen, als man Smirnov auf der Bahre hinausträgt. Dann kommt David Dushman, der Trainer der sowjetischen Fechterinnen, und nimmt ihn in die Arme. Dushman ist ein russischer Jude, als Soldat der Roten Armee hat er am 27. Januar 1945 den Zaun im KZ Auschwitz niedergewalzt, und jetzt tröstet er Behr: "Du kannst nichts dafür. Ein solches Unglück ist von Gott vorbestimmt."
Vladimir Smirnov wird ein paar Tage später für tot erklärt. Behr läuft durch die Welt wie in Trance. Beck, der Trainer, zieht sich mit ihm zurück in den Bayrischen Wald, aber Behr findet keine Ruhe. Er überlegt, ob er zur Beerdigung soll, hat aber panische Angst davor, der Witwe gegenüberzutreten, "und dass man mich als Mörder beschimpft."
Es vergehen Monate, ehe er wieder ein Florett in die Hand nimmt. "Ich konnte nicht mehr klar denken", erinnert er sich. Er wollte Abstand zu gewinnen zu dem, was ihn innerlich auffraß, aber es ging nicht. Behr: "Das Unglück begleitete mich auf Schritt und Tritt, und es ist bis heute so: Wenn ich im Supermarkt die Wodkaflaschen der Marke Smirnov sehe, ist sofort wieder alles da, als wäre es gestern geschehen."
Das Cafe-Bistro im Tauberbischofsheimer Klosterhof bekommt plötzlich prominenten Besuch. Behrs alter Mitfechter Thomas Bach biegt um die Ecke. Der IOC-Präsident hat zwei Straßen weiter noch sein altes Anwaltsbüro, und jetzt macht er Mittagspause, isst Currywurst mit Brot und erzählt, wie sie 1976 nach der olympischen Gold-Schwemme in Montreal hier auf dem Markt von 30.000 begeisterten Fans mit Pauken und Trompeten empfangen wurden. Der beschauliche Flecken an der Tauber war die Fechthauptstadt der Welt.
Dann kommt Bach auf das Drama von Rom. "Ich saß auf der Tribüne", erinnert er sich. "Und da war plötzlich diese tumultartige Aufregung. An der Körperhaltung von Matthias sah ich: Es war etwas Furchtbares passiert. Sein Schock hat sich tief eingegraben in jeden, der dabei war. Es fällt mir schwer, darüber zu reden, ich weiß, wie es ihn aufwühlt. Matthias war immer sensibel in der Wahrnehmung von Stimmungen. Er war ein sensibler Kämpfer." Und zu sensibel, um die Tragödie zu verkraften.
"Meine erste Ehe ist nicht zuletzt daran zerbrochen"
Behr: "In der Not redete ich mir ein, dass ich dazu auserkoren war, für mehr Sicherheit im Fechten zu sorgen." Fünf Jahre später waren alle Klingen aus bruchsicherem Stahl, die Westen undurchdringbar, und die Masken nicht mehr porös wie die von Smirnov. Aber der Freund war tot, und Behr wurde das Trauma nicht los. "Ständig hatte ich das Geräusch im Ohr, als die Klinge brach - und wenn ich bei einem Juniorenturnier sah, dass ein Smirnov auf der Liste stand, dachte ich gleich: Hatte Vladimir nicht einen Sohn?"
Es gab keine Hintertür aus dem Teufelskreis, Behr kam sich vor "wie ein Schuldiger, der seine lebenslängliche Strafe absitzt". Er versuchte sich freizusprechen, indem er sich sagte: "Das ist, wie wenn du Autos fährst, und ein Kind rennt dir rein." So baute er sich Brücken - und endete auf der Autobahnbrücke.
Zu viel kam damals zusammen. Denn da war auch noch der Bruch mit Emil Beck. Behr hatte als Kind seinen Vater verloren, und der Fechttrainer Beck wurde zum Ersatzvater. Der vom Frisör zum Fechtpapst aufgestiegene "Goldschmied von der Tauber" war, sagt Behr, als "Leistungsfanatiker ein Motor, der Tag und Nacht lief", der Drill war brutal, aber als dankbarer Ziehsohn zog er mit bis dicht an die Selbstaufgabe. Behr: "Meine erste Ehe ist nicht zuletzt daran zerbrochen."
Die zweite ging er mit Zita Funkenhauser ein, dem Gold-Girl von Seoul 88 - und als seine Frau kurz vor den Olympia 96 die Zwillinge Greta und Leandra mittels Notkaiserschnitt zur Welt brachte, sagte Behr, inzwischen Becks Assistent, zum Chef: "Ich kann nicht mit nach Atlanta."
Beck war sauer, er sprach von Verrat und mangelndem Teamgeist. Und als er nach dem auf eine Bronzemedaille beschränkten Flop in den USA die Schlagzeile "Vom Goldschmied zum Blechschmied" über sich lesen musste, schob er Behr offen die Schuld zu. Der erzählt beim Rückblick von Mobbing und Psychokrieg. "Nicht einmal gegrüßt hat er mich noch, es war die Hölle", sagt Behr, noch immer verzweifelt, "wir waren doch früher wie Vater und Sohn."
"Ich habe Sie nie für schuldig gehalten"
Er wollte nicht mehr. Als er dann heimkehrte von der Autobahnbrücke, bat ihn seine Frau Zita händeringend: "Du musst zum Arzt." Sie half ihm mit ihrer Liebe, aber als Zahnärztin war sie therapeutisch die Falsche, und er fand einen Psychiater in Würzburg. Seither weiß Behr: "Eine Depression mit sich allein auszumachen, ist ein fataler Fehler." Der Arzt hat ihn in den folgenden Jahren wieder seelisch aufgestellt.
Und dann vollends Emma Smirnova. Im April 2016 kam plötzlich dieser Brief aus Kiew. 34 Jahre hatte Behr für diesen Tag gebetet. Viele Briefe hatte er geschrieben in die Ukraine, über viele Wege, und versucht, der Witwe seine Gefühle zu schildern, "aber eine Antwort kam nie". Einmal war ein TV-Team aus Kiew in Tauberbischofsheim, er bat um Vermittlung. Auch da keine Antwort.
Der Filmemacher Michael Dittrich, dessen Dokumentation der Tragödie am Sonntagabend gesendet wird, hat es dann noch mal versucht. Er spürte, wie wichtig es war für Behr. Auch Dittrich ist vom Schicksal nicht verwöhnt, von einer Auslandsreise kam er mit einem Virus heim, der ihn seither an den Rollstuhl fesselt. Alle Drähte ließ er glühen - und am 20. April bimmelte bei Behr der Email-Alarm, und da war sie, die lang erhoffte Post.
"Hallo, Herr Matthias Behr", schrieb Emma Smirnova, "ich freue mich, dass wir miteinander ins Gespräch kommen. Zu allererst: Ich habe Sie nie für schuldig gehalten. Dieses schreckliche Situation ist tragisch für uns beide."
Im Herbst will er das Grab seines Freundes besuchen
Behr weiß durch den Brief jetzt alles über die Frau, die er durch eine Tragödie zur Witwe machte. Emma Smirnova ist 62. Sie hatte mit ihrem Mann Vladimir zwei Kinder, Olga ist 39 und Dmitry wurde 40 im Juni. Der Sohn ist behindert und lebt mit ihr im Haus auf dem Land, und dank Olga ist sie Oma, die Enkel heißen Artemy und Eugen. 1987 hat Emma wieder geheiratet und einen Sohn geboren, der mit sechs Monaten an einer Virusinfektion starb.
"Der Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen lässt mit der Zeit nach", schreibt Emma Smirnova an Behr. "Aber ich bedaure, nicht bei meinem Mann gewesen zu sein in diesen tragischen Tagen. Hat man Volodyas Organe für eine Transplantation verwendet? Vielleicht schlägt sein großes und gutes Herz ja noch heute irgendwo, ohne dass ich es weiß."
"Das geht mir unter die Haut", sagt Behr. Vor kurzem hat er mit Emma Smirnova nun auch telefoniert. Im Herbst will er nach Kiew fliegen und auch das Grab des Freundes besuchen. Von Vladimir Smirnov steht dort ein Denkmal in Lebensgröße.
Behr hat ins Leben zurückgefunden. Er leitet den Olympiastützpunkt in Tauberbischofsheim und hat als Opa viel Freude mit seinen Enkelkindern. 34 Jahre nach dem tödlichen Stich, der tiefe Wunden hinterließ, sagt Matthias Behr: "Ich bin mit mir im Reinen."
Quelle : welt.de
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