Unter den Bürgern ist allerdings in gleichem Maße eine wachsende Kirchenferne festzustellen, religiöse Praxis schwindet aus dem Bewusstsein, es herrscht eine verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber der Religion des eigenen Kulturkreises, und gleichzeitig nehmen Furcht und Vorurteile gegenüber fremden Religionen zu, vor allem gegenüber dem Islam. Angesichts dieser komplexen Gemengelage kann es hilfreich sein, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Wie das mit übergeordneten Themen auf großen Tagungen so ist, hatten indes längst nicht alle Veranstaltungen etwas mit Glaubensfragen zu tun.
Die Vieldeutigkeit der Religion
Als „umstrittene Kategorie“ wurde Religion in einem Panel verhandelt, das die begrifflichen Grundlagen der Säkularisierung – verstanden als historischer Prozess, in dem die Religion ihre staatliche und gesellschaftliche Deutungshoheit zunehmend verliert – zu klären versuchte. „Vieldeutigkeit“ war dabei das zentrale Stichwort: Religion sei vieldeutig, Säkularisierung sei vieldeutig, das Verhältnis zwischen beidem sei vieldeutig. Eindeutig war für die Referenten nur, dass es keine „binäre Opposition“ der Begriffe mehr gebe. Wie kann dann eine Religionsgeschichte der letzten zweihundert Jahre geschrieben werden? Offenbar nur, indem deren innere Widersprüchlichkeit nicht aufzulösen versucht wird. Lucian Hölscher brachte das moderne Religionsverständnis mit einem Zitat Bonhoeffers auf den Punkt: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ Religion bezeichne so gesehen „keine dogmatische Position, sondern ein Verhältnis des Menschen zur Welt“.
Was es bedeutet, Religion als zentralen Strukturbegriff der Geschichtswissenschaft zu verstehen, zeigte die interdisziplinäre Podiumsdiskussion über „Religionsgeschichte heute“. Wenn permanent eindeutige Begriffe in Frage gestellt werden, fragte jemand aus dem Publikum, schaffen die Forscher ihren Gegenstand dann nicht selbst ab? Nein, stellte Gangolf Hübinger klar: „Es sitzen bloß keine Götter mehr auf dem Podium, die substantialistisch sagen, was Religion ist.“
Die Legende vom deutschen Sonderweg
Während sich die Referenten mithin nicht als Verkünder einer Wahrheit verstanden, sondern als säkularisierte Forscher einer religiösen Glaubensgeschichte, erzählte ein Panel über den „Volkslauf auf dem Sonderweg“ eine Geschichte des Glaubens ganz anderer Art. Der deutsche Sonderweg? Ist das nicht eine Interpretation der Geschichtswissenschaft, die längst als widerlegt gilt? In der Tat werde genau das offiziell proklamiert, erklärte Hedwig Richter, doch es mehrten sich nicht nur die Stimmen, die auf diesen Weg zurückführen wollen, sondern er sei trotz gegenteiliger Verlautbarungen erst gar nicht wirklich verlassen worden. In der Demokratiegeschichte sei die Legende von der deutschen Andersartigkeit besonders zählebig. Einig waren sich die Referenten dieses Panels darin, dass nach wie vor der internationale Vergleich zu wenig Berücksichtigung finde und es dadurch zu Verzerrungen in der Wahrnehmung der deutschen Geschichte komme. Muss die deutsche Geschichte also doch noch einmal neu geschrieben werden? Forschungsbedarf scheint es jedenfalls genug zu geben.
Dialoge mit der Politik
Sonderwege, über deren Sinn und Unsinn viel gestritten werden kann, gab es auch in der thematischen Anlage ausgewählter Veranstaltungen: Die Historiker suchten den Dialog mit der Politik. So war zum Beispiel Barbara Lochbihler, außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen im EU-Parlament, Gast der ansonsten von Wissenschaftlern besetzten Podiumsdiskussion zum Thema „Flucht und Grenzen“. Interessant war daran weniger, dass Wissenschaftler sich in der Lage zeigten, auch einmal mit einer Politikerin zu reden und diese wiederum ihre bekannten Positionen zur Flüchtlingspolitik vortrug. Entscheidend war vielmehr eine Frage, die Dieter Gosewinkel mit Blick auf die historische Migrationsforschung an die Politikerin richtete: „Wo brauchen Sie mehr Argumente von Historikern für Ihre politische Arbeit?“ Die Tragweite der Frage schien dabei gar nicht bemerkt worden zu sein. Denn seit wann betrachten es Historiker als ihre zentrale Aufgabe, Politiker zu beraten? Ist das als ein neues Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft zu deuten? Oder waren diese Dialoge mit der Politik, wie sie auf dem Historikertag zu beobachten waren, nur zaghafte Versuche, die mehr irrten als sich bewährten und für Zustand und Entwicklung des Fachs nicht weiter ernst zu nehmen sind?
Dass hier eine Selbstbestimmung möglicherweise noch aussteht, zeigte die Podiumsdiskussion über „Sinn und Unsinn des Reformationsjubiläums“. Matthias Pohlig deutete das Reformationsjubiläum, das eine „Tendenz zur Eventisierung der Geschichte“ zur Folge habe, als problematischen Musterfall öffentlicher Vermittlung von Wissenschaft. Aus seiner Sicht spiegelt sich darin eine nach wie vor ungeklärte Haltung der akademischen Geschichte gegenüber der Public History.
Podiumsdiskussion über Hitler
Muss das Fach also mehr Anknüpfungen zur Öffentlichkeit suchen? Eines fiel zumindest auf: Wenn es auf dem Historikertag überhaupt Streit gab, dann vor allem in den politischen Diskussionen. Warum diese Auslagerung in die Politik? Man sollte meinen, die Historiker hätten sich untereinander genug zu sagen. Oder gibt es für sie keine großen Fragen des Faches mehr, über die es sich intensiv zu diskutieren und zu streiten lohnt? Dass dafür durchaus noch Potential vorhanden ist, demonstrierte neben den neuen Fragen zu alten deutschen Sonderwegen eine Podiumsdiskussion über „Hitler: Eine historische Vergewisserung“. Im Hinblick auf die neue Edition von Hitlers „Mein Kampf“, die das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) herausgebracht hat, fand Ulrich Herbert deutliche Worte: Die Einleitung sei in einem volkspädagogischen Ton gehalten, die Kommentierung geradezu lächerlich und die ganze Edition unsäglich. Das Buch sei durch die Edition zu Unrecht auf einen Sockel gestellt worden, wodurch der problematische Eindruck entstehe, als handele es sich bei Hitler um eine hochbedeutende Figur, während die historischen Ereignisse und Strukturen aus dem Blick gerieten. Dieser Einwurf, den Andreas Wirsching vom IfZ ebenso vehement abstritt, ist deshalb so interessant, weil hier in einer wissenschaftlichen Debatte überhaupt einmal ein Dissens gewagt wurde, und zwar in aller Deutlichkeit, ohne die eigenen Thesen in der Artikulation gleich wieder weichzuspülen.
Auf dem Podium über das Reformationsjubiläum erinnerte der Moderator an einen Roman von Sibylle Lewitscharoff, in dem sich während einer Tagung auf einen Schlag alle Teilnehmer in Luft auflösen – wäre auch der Historikertag von einem solchen Phänomen betroffen gewesen, sagte er scherzhaft, würde dies gewiss ein besonderes Interesse bei den Medien wecken. Er irrt: Nicht das plötzliche Verschwinden der Tagungsteilnehmer wäre faszinierend für die Medien, sondern eine wachsame Wissenschaft, die sich selbstbewusst präsentiert und auf der Suche nach den großen Forschungsfragen ihren streitbaren Charakter nicht verliert.
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