Angenommen, al-Bakr hätte sich nicht das Leben genommen. Was dann? Hätten wir ihn zum Psychiater geschickt, resozialisiert, im Gefängnis zum Tischler ausgebildet und demokratisch umerzogen, sodass wir sicher sein können, dass er dem Islamismus abschwört und nie wieder ans Morden denkt? Hoffentlich wäre es so gekommen. Aber wer garantiert, dass der Kerl uns nichts vorgaukelt und - kaum entlassen - wieder Bomben bastelt? Dann ist es doch gut, dass er tot ist. Oder?
In Zeiten des Terrors gerät alles ins Wanken, auch unsere Moralvorstellungen. Der Versuch, sie neu zu ordnen in der Hoffnung, wieder Halt zu finden, ist verständlich. Nur will es einfach nicht gelingen, dreht sich doch gerade alles viel zu schnell. "Recht und Moral sind strikt voneinander zu trennen. Das ist das Wesen des Rechtsstaates", sagt die kluge Staatsanwältin in Ferdinand von Schirachs Theaterstück "Terror", dessen Filmversion am Montagabend in der ARD zu sehen war. Und weiter: "Niemals darf eine moralische Einstellung über der Verfassung stehen." Ihr Wort in Volkes Ohr.
Die Würde des Menschen ist unantastbar - immer
Seit dem 11. September 2001 wurden sukzessive und weltweit immer mehr Sicherheitsvorkehrungen, längst nicht nur im Flugverkehr, gesetzlich verankert. Die Möglichkeiten der Geheimdienste und Sicherheitskräfte zur Terrorabwehr sind ausgeweitet worden. Dazu gehörte in der Bundesrepublik auch die Option, vollbesetzte Passagierflugzeuge von der Luftwaffe abschießen zu lassen. Das Gesetz trat 2005 in Kraft. Ein Jahr später kassierte es das Bundesverfassungsgericht. Die Richter erklärten es für "unvorstellbar, unschuldige Menschen, die sich in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten". Mit anderen Worten: Da die Würde auch derjenigen Menschen unantastbar ist, die mutmaßlich oder tatsächlich dem Tode geweiht sind, darf der Staat ihnen nicht das Leben nehmen.
Von Schirachs Drama knüpft an dieses Urteil an. Ein Pilot der deutschen Luftwaffe schießt gegen die Weisung der Bundesverteidigungsministerin einen von einem islamistischen Terroristen gekaperten Ferienflieger mit 164 Menschen an Bord ab. Der Extremist hatte von der Besatzung verlangt, die Maschine in ein mit 70.000 Menschen ausverkauftes Stadion in München zu stürzen. Schirach, der selbst studierter Jurist ist, gelingt es nicht nur, Komplexität und Schwierigkeit der Rechtsfindung zu veranschaulichen, sondern auch, wie schwer es in einem Rechtsstaat sein kann, dessen Grenzen (neu) zu justieren.
Die fiktionale Gerichtsverhandlung zeigt das ganze Dilemma. Dabei könnte man die verschiedenen Szenarien immer weiter verändern. Was, wenn das abgeschossene Flugzeug in das Krankenhaus einer Münchner Vorstadt stürzt? Was, wenn die Ministerin den Abschuss befiehlt, aber der Pilot sich weigert, der Weisung zu folgen? Was, wenn sich nach dem Abschuss herausstellt, dass just in der Sekunde des Abfeuerns der Rakete mutige Passagiere den Terroristen überwältigt hatten, was der Pilot aber nicht wusste? Ist er dann kein Held mehr, sondern ein Mörder?
Freispruch würde die "Verfassung für wertlos erklären"
Sicher ist: Was immer der Militärangehörige tut, er hat Menschenleben auf dem Gewissen. Moralisch rechtfertigen kann er weder die eine noch die andere Option. Hinterbliebene der Opfer, ob im Flugzeug oder im Stadion, werden ihn als Schwein betrachten. Der Pilot kann sich nur schuldig machen. Die Frage aber ist, ob auch im strafrechtlichen Sinne. Nach Auffassung der Staatsanwältin in "Terror" ist der Staatsdiener wegen Mordes an 164 Menschen zu verurteilen. Er habe sich selbst zu Gott und 164 Mitmenschen zu Objekten erklärt, was die Verfassung, die "klüger als unsere Wut, klüger als unsere Angst" sei, nicht erlaube. "Nur mit ihr werden wir in Zeiten des Terrors als freie Gesellschaft überleben." Ein Freispruch jedenfalls würde die "Verfassung für wertlos erklären".
Aber sagt der französische Präsident François Holland nicht fortwährend, sein Land "befindet sich im Krieg" gegen den IS? Sind da "zivile Opfer" nicht traurige, aber leider eben hinnehmbare Kollateralschäden? Knapp 87 Prozent der ARD-Zuschauer, die sich am Montagabend an der Abstimmung beteiligten, sehen es so. Sie plädierten auf Freispruch - weitaus mehr als in den Abstimmungen der bisherigen Theateraufführungen. Das Ergebnis brachte den früheren Innenminister Gerhart Baum von der FDP, der die Verfassungsklage vor zehn Jahren erfolgreich durchbrachte, an den Rand der Verzweiflung. Er fragte, was diese 87 Prozent erwarteten? "Dass wir das Grundgesetz ändern?"
Im Kern der Debatte geht es genau darum. Abstriche an Artikel 1 der Verfassung wären fatal. Menschen zu Objekten einer - wenn auch moralisch hochstehenden - Abwägung zu erklären, ist gefährlich, konterkariert es doch den Willen des Grundgesetzes. Recht muss für alle gleich gelten. Die Angst vor den Bombenlegern und Kopfabschneidern des IS darf uns nicht dazu bringen, die Grenzen des Erlaubten einzureißen. Alle Antworten, die wir auf bohrende Fragen in Zeiten des Terrors suchen und finden, dürfen niemals darauf hinauslaufen, an den Grundfesten des Rechtsstaates zu rütteln. Sonst haben wir ganz schnell eine Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe und den Verzicht auf das Folterverbot. Das wäre der Anfang vom Ende unserer wehrhaften Demokratie. Dann hat der Terror gesiegt.
Quelle: n-tv.de
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