Das Ticken sagt auch viel über den Film, der vom Konzept von Zeit mindestens so besessen ist wie Nolans Vorgänger „Memento“ und „Inception“. Dabei hätte man geglaubt, an der Chronologie sei nicht viel herumzubiegen: Das Drama von Dünkirchen dauerte exakt vom 24. Mai bis zum 4. Juni 1940. Und doch weist uns Nolan schon am Anfang auf seine Absichten hin: „Am Strand – eine Woche, auf See – ein Tag, in der Luft – eine Stunde“.
„Dunkirk“ ist Blockbustermaterial, ein über 100 Millionen Dollar teurer Film, von dem Warner Bros. erwartet, dass er das Fünf- oder Zehnfache einspielt. Es ist aber auch der neue Film jenes Regisseurs, der 20 Millionen Gage bekommt und 20 Prozent der weltweiten Einnahmen (zuletzt gelang Peter Jackson vor zwölf Jahren für „King Kong“ solch ein Deal). Christopher Nolan, der sich erlauben darf, was sich kein anderer Regisseur erlaubt, und der Blockbuster-Regeln gleich reihenweise verletzt: kein Amerikaner als Hauptfigur, kein Star als Hauptdarsteller und am Schluss eine Niederlage.
„Dunkirk“ endet mit einem Desaster
Denn es ist ein Desaster, womit „Dunkirk“ endet. Tom Hardy klettert aus seiner Spitfire und wird von Deutschen gefangen genommen, Hunderttausende seiner Kameraden fliehen über den Ärmelkanal zurück, und die Deutschen erobern den letzten Brückenkopf der Briten auf dem Kontinent. Ob man Dünkirchen trotzdem als den Ort bezeichnen kann, an dem Hitler den Krieg verlor – er hätte dort die halbe britische Armee einfangen können –, darüber debattierten Historiker.
Für Kinozwecke zählt, dass wir es mit sehr kinounfreundlichen Voraussetzungen zu tun haben. Dünkirchen ist deshalb erst zweimal verfilmt worden, 1958 in England und 1964 in Frankreich, nicht oft für ein solch einschneidendes Ereignis. Und so sehen wir bei Nolan Soldaten, die nicht kämpfen, sondern in endlosen Schlangen am Strand auf ihre Evakuierung warten. Wir sehen Luftkämpfe zwischen Spitfires und Messerschmitts, und die ziehen sich, weil es eben keine hitzesuchenden Raketen gab, sondern nur wackelige Maschinengewehre, und weil der Detailfetischist Nolan das Mühsame hervorheben will. Wir sehen Niedergeschlagenheit, Hilfslosigkeit, Angst und nirgends einen Helden, der alle aufrüttelt und eine Bresche schlägt.
Die Belohnung bei Nolan besteht nicht im Sieg, sondern im Weiterleben. Auf dieser Klaviatur spielt er unentwegt: das Überleben im deutschen Bombenhagel auf dem Strand, das Überleben im verriegelten Schiffsrumpf, in den Wasser dringt, das Überleben im Strudel, der das Schiff in die Tiefe zieht. Es ist, musikalisch gesprochen, ein langer, trauriger Mollton, ein paarmal unterbrochen von aufjubelndem Dur, wenn Tom Hardy eine Messerschmitt mit rauchendem Schweif ins Wasser schickt.
Nolans Film ist ein langer, trauriger Mollton
Nolan hat das Problem begriffen und versucht etwas, das bisher nur wenige Regisseure probiert haben, und auch das lässt sich am besten musikalisch erklären. Erinnern wir uns an „Inception“: Leonardo DiCaprios Kumpel Joseph Gordon-Levitt wird von einem Schurken ein Treppenhaus heruntergejagt. Dann geschieht Merkwürdiges. Gordon-Levitt läuft noch einen Absatz herab – und befindet sich plötzlich hinter seinem Verfolger, eine physikalische Unmöglichkeit. Nicht in der Welt optischer Täuschungen; die Penrose-Treppe (benannt nach einem britischen Mathematiker) ist ein geschlossenes Viereck einer Treppe, die in sich selbst zurückführt, sodass die Illusion erzeugt wird, sie führe unendlich hoch (oder hinunter), je nach Laufrichtung. Das musikalische Gegenstück ist der Shepard-Ton (erfunden von einem amerikanischen Psychologen), bei dem die Illusion einer unendlich ansteigenden (oder abfallenden) Tonleiter erzeugt wird.
Und das filmische Äquivalent zum Shepard-Ton ist nun eben Nolans „Dunkirk“: ein Film, dessen Spannungsamplitude kaum dramatisches Auf und Ab kennt, über anderthalb Stunden Leiden auf Leiden türmt, aber trotzdem, wie der Shepard-Ton, eine ständig steigende Spannung behauptet.
Wenige haben das vor „Dunkirk“ versucht. Henri-Georges Clouzot mit „Lohn der Angst“ gehört dazu, wo vier Männer vier Nitroglyzerin-Laster fahren, die bei der geringsten Erschütterung explodieren können; oder George Miller mit „Mad Max: Fury Road“, einer nahezu ununterbrochenen Autojagd. Bei Clouzot wie Miller wie Nolan geht es darum, den Ton hoch und den Zuschauer im permanenten Alarmzustand zu halten. Nolan führt dazu drei Zeitebenen (Strand, Luft, See) ein, um die Zeit nach Belieben knautschen und dehnen und den Kammerton A wie Alarm wahren zu können. Es gibt eine Tonspur von Hans Zimmer, vielleicht die komplexeste, die er je geschrieben hat, sie imitiert das fürchterliche Heulen der Stuka-Sirene und das bedrohliche Gurgeln des Wassers und klingt wie eine andauernde Totenklage.
Tom Hardy ist schon wieder völlig unkenntlich
„Dunkirk“ ist ein mit mathematischer Präzision konstruierter Film geometrischer Bewegungen, zwei diametrale Vektoren treffen aufeinander, die Fluchtkolonnen vom Kontinent sowie die Flottille kleiner Boote, die von England zur Rettung angeschwommen kommt; das Hin ist gut, und das Her ist schlecht. Tom Hardys Pilotengesicht ist schon zum dritten Mal (nach „The Dark Knight Rises“ und „Fury Road“) durch eine Maske völlig unkenntlich, und er gibt auch nicht mehr als ein halbes Dutzend kurzer Sätze von sich.
Das passt zu Nolans Konzept, den die Geometrie seines Schachbretts mehr interessiert als das Schicksal seiner Figuren. Von keiner Figur erfahren wir mehr als ihre Reaktion auf den Moment, alle sind Chiffren einer Nation, für britische Leidensfähigkeit und britischen Stoizismus. Dafür braucht es Körper, aber keine Charaktere, und so fällt einem zu kaum einem der Jungdarsteller ein Name ein, außer der des Popsängers Harry Styles. Nolan nennt seinen Film ein „intimes Epos“, aber die Anonymität arbeitet gegen die Intimität. Er verwendet große Mimen, wie Kenneth Branagh und Mark Rylance, aber sie sind zur Unerschütterlich- und Sprachlosigkeit verurteilt; „Dunkirk“ ist beinahe ein Stummfilm mit Geräuschen und Musik, der Traum eines Regisseurs, von dem man zunehmend den Eindruck gewinnt, Schauspieler stellten für ihn eher lästiges Beiwerk dar.
Briten wird das Wunder von Dünkirchen mit der Muttermilch eingeflößt, es ist Teil der nationalen DNS, eine glorreiche Niederlage, der Trittstein zum späteren Sieg und vor allem Ausdruck der kompletten Deckungsgleichheit von Nation und Volk: Ohne die Hunderte privater Boote, die ausschwärmten, wären nie 330.000 Soldaten gerettet worden. Für die Briten ist Dünkirchen eine kollektive Erinnerung, und aus der Psyche dieses Kollektivs blickt Nolan auf das Ereignis. Nur funktioniert das jenseits der Insel nicht, wir können zwar die kristalline Imax-Klarheit der tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten am blauen Himmel (in Wirklichkeit war er bewölkt) bewundern – doch am Ende liegt einem ein britisches So what? auf den Lippen.
Ein isolationistischer Flm für Insel-Britannien
„Dunkirk“ ist Nostalgie für ein Land, das es so nicht mehr gibt, ein isolationistischer Film für eine Nation, die sich auf ihre Insel zurückzieht, damals und heute wieder; ist erst die Verbindung zum Kontinent gekappt, wird alles gut. Es läuft momentan ein zweiter Weltkriegsfilm in den Kinos, Lone Scherfigs „Ihre beste Stunde“, und sie wie Nolan erzählen davon, wie eine Nation nach Helden dürstete und sie von den Medien damals auch serviert bekam. Wie heute wieder: Die britische Filmindustrie liefert dieses Jahr noch zusätzlich zwei Churchill-im-Krieg-Streifen zur Stärkung der Moral an der Brexit-Front.
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