Das Massaker von My Lai

  16 März 2018    Gelesen: 1380
Das Massaker von My Lai

Die Vertuschung gelingt nur für kurze Zeit: Vor 50 Jahren metzeln US-Soldaten in Vietnam mehr als 500 Zivilisten nieder, unter ihnen Kinder, Greise, Schwangere. Nur ein Amerikaner wird je dafür verurteilt – und für viele wird er zum Helden.

 

Der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Vietnam reagiert prompt. "Glückwünsche den Offizieren und Mannschaften zum ausgezeichneten Gefecht", schreibt General William Westmoreland in einem Telegramm an die Einheit "Charlie Company". Da hatte die Truppe gerade im südvietnamesischen Dorf My Lai 504 Zivilisten abgeschlachtet, unter ihnen 172 Säuglinge und Kinder, 60 Greise und 17 Schwangere.

Das Massaker von My Lai war kein Einzelfall. Aber es war ein Ereignis, das das Bild vom Vietnamkrieg prägte und die vermeintliche moralische Überlegenheit der US-Streitkräfte als Mär entlarvte. Wenn später US-Präsident Richard Nixon im kleinen Kreis sagte: "Fickt die Wichser" oder "Wir werden ihnen verdammt noch mal alles um die Ohren pusten" – hier in My Lai setzen die US-Soldaten das auf ihre Art um.

In My Lai selbst ahnen die Dorfbewohnern nichts Böses, als am Morgen des 16. März 1968 neun US-Armeehubschrauber den Ort rund 540 Kilometer nordöstlich von Saigon erreichen. Schon mehrmals waren US-Soldaten hier gewesen und hatten Süßigkeiten an die Bewohner verteilt. Doch diesmal ist alles anders. Die Soldaten der "Charlie Company" umzingeln das Dorf, dann zerren sie die Menschen aus den Strohhütten. Das Morden beginnt.

"Sie töteten und töteten. Die Kugeln fielen wie Regen. Ein Mann riss meine Mutter an den Haaren, drückte ihren Kopf ins Wasser und erschoss sie", erinnert sich eine der wenigen Überlebenden später. "Sie fingen einfach an zu schießen und stießen die Menschen in den Graben." Doch die Soldaten schießen nicht nur. Sie jagen Frauen, vergewaltigen, schießen fliehenden Kindern in den Rücken. Sie werfen Handgranaten in Häuser, stecken die Hütten in Brand, sie trennen ihren Opfern Köpfe, Ohren, Zungen ab.

"Endlich würde es passieren"

Kurz zuvor, zu Beginn des vietnamesischen Neujahrsfestes im Januar 1968, hatten die Vietcongs in Südvietnam die Tet-Offensive gestartet und Dutzende Ortschaften und US-Militärbasen angegriffen. Die Attacke erwischte die Amerikaner kalt, die seit fast vier Jahren im Süden Vietnams gegen die aufständischen, von Kommunisten dominierten Vietcong kämpften. Nach dem ersten Schock reagieren sie mit massiven Gegenschlägen. General Westmoreland erteilt im Februar seinen Truppen eine beispiellose Handlungsfreiheit. Er setzt die Schutzbestimmungen für Zivilisten und deren Besitz vorübergehend außer Kraft, Truppenführer erhalten die Erlaubnis, in besonders hart umkämpften Regionen Orte mit Waffen und Verbänden ihrer Wahl anzugreifen. "Westmorelands befristete Erlaubnis kam einer Einladung zur unbefristeten Willkür gleich", so der Historiker Bernd Greiner.

Am 15. März unterweist der Chef der Company "Task Force B" seine Soldaten, wobei er keine klare Unterscheidung zwischen bewaffneten Feinden und Frauen und Kindern machte. Die Truppe, die kurz zuvor durch Sprengfallen und Minen 100 Mann verloren hatte, vernimmt dies offenbar mit einer gewissen Genugtuung. "Der bloße Gedanke an den nächsten Tag ließ bereits das Adrenalin fließen. Endlich würden wir tun können, wofür wir hier waren. Endlich, endlich würde es passieren", so ein Beteiligter damals.

Die oft jungen GIs fackeln denn am nächsten Tag auch nicht lange. Ihr stundenlanges Morden unterbricht erst der Offiziersanwärter Hugh Thompson. Von seinem Hubschrauber aus soll er die Operation aus der Luft unterstützen, allerdings kann er keine Feinde erkennen. "Wo wir hinschauten, waren Leichen. Kinder, Kleinkinder, Säuglinge, Frauen, sehr alte Männer – alles, nur keine Männer im wehrfähigen Alter." Als er mitbekommt, dass US-Soldaten Zivilisten niedermetzeln, droht er damit, auf seine Kameraden schießen zu lassen. "Es war wahrscheinlich einer der traurigsten Tage in meinem Leben. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Menschen so vollkommen die Kontrolle verlieren."

Thompson beschwert sich später, doch vergebens. Die US-Armee versucht, das Massaker zu vertuschen. Erst als ein weiterer Soldat, Ronald Ridenhour, Nachforschungen anstellt und unter anderem einen Brief an Präsident Nixon schreibt, gibt es eine erste Untersuchung. Auch der Journalist Seymour Hersh bekommt Wind von den Ereignissen und schreibt einen längeren Artikel. Die großen Zeitungen wollen ihn zunächst nicht veröffentlichen. Zu brisant scheint das Thema, zu unglaublich. Erst später publiziert das "Time"-Magazin Hershs Bericht über das Massaker, für den er 1970 dann auch den Pulitzer-Preis erhält. Die Öffentlichkeit reagiert mit Entsetzen, die immer stärker werdende Anti-Vietnam-Bewegung fühlt sich bestätigt. Kurz vor dem Massaker von My Lai erst hatte es einen Aufschrei des Entsetzens gegeben, als ein Verbündeter der US-Truppen, der Polizeichef in Saigon, einen gefesselten Vietcong auf offener Straße erschoss.

Anzahl der Toten wird zum Maßstab des Erfolgs

Dabei ist das Massaker längst nicht das einzige, das US-Soldaten in Vietnam verüben. Als der Dreisterne-General und Sonderermittler William Peers das Morden von My Lai untersucht, kommt er zu dem Schluss, dass die Geschehnisse dort nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren. Je länger der Vietnamkrieg andauert und die Vietcong mit ihrer Guerillataktik die technische Überlegenheit der USA aushebeln, desto wichtiger wird für die US-Truppen der "Body Count". Die tägliche Anzahl der Getöteten wird zum Maßstab des Erfolgs einer Truppe. Bestärkt werden sie dabei durch General Westmoreland, der erklärt: "Dem Orientalen ist ein Menschenleben nicht so viel wert wie dem Westler. Es gibt reichlich Leben, es ist billig im Orient."

Vielleicht sind Ansichten wie diese auch der Grund, warum das Massaker nicht zu einer umfassenden juristischen Aufarbeitung führt. Ledig fünf Soldaten werden vor Gericht gestellt, nur einer verurteilt: Lieutenant William Calley, der Kommandeur der Task Force. Im September 1969 Mord wird ihm Mord an 102 "Orientalen" vorgeworfen. Er selbst sieht sich als Opfer, schließlich habe er "als Person" keinen Menschen in My Lai getötet. "Ich tat es für die Vereinigten Staaten von Amerika, mein Land. Und wir waren nicht da, um menschliche Wesen zu töten. Wir waren da, um eine Ideologie zu töten. Um den Kommunismus zu zerstören." Zu dieser Logik gehört auch, schon Kinder und Babys zu töten. Schließlich könnten diese ja später zu Mördern von Amerikanern heranwachsen.

Offenbar denken etliche Amerikaner so wie Calley, für viele ist er ein Held oder ein Sündenbock. Vor dem Gerichtsgebäude fordern Demonstranten seine Freilassung. Im März 1971 wird Calley der vorsätzlichen Tötung von 22 Zivilisten schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Die Empörung ist groß in den USA. Mehrere Bundesstaaten hissen ihre Flaggen aus Solidarität auf halbmast, Gouverneure rufen zu Solidaritätskundgebungen auf. Tausende Telegramme erreichen das Weiße Haus mit der Bitte, Calley zu begnadigen.

Doch Calley muss nicht lange im Gefängnis bleiben. Schon bald wird er aus der Haft entlassen und unter Hausarrest gestellt. Er bekommt eine Sekretärin, die seine Fan-Post erledigt. 1974 wird Calley endgültig begnadigt. Als er freikommt, ist er ein geachteter Mann und Autor des Buches "Ich war gern in Vietnam".

Quelle: n-tv.de


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