Ortega: Vom Freiheitskämpfer zum Diktator – Nicaragua im Griff des US-Kapitals?

  18 April 2019    Gelesen: 664
 Ortega: Vom Freiheitskämpfer zum Diktator – Nicaragua im Griff des US-Kapitals?

Am Donnerstag jähren sich Nicaraguas blutige Proteste, bei denen Hunderte Menschen gestorben sind. Die Gewalt ist von der sandinistischen Regierung Daniel Ortegas ausgegangen - einer einstigen Hoffnung des Landes. Vor kurzem hat der Politologe Leo Gabriel mit dem Präsidenten gesprochen: Auch hier sollen die USA ihren Interessen nachjagen.

Vor einem Jahr begann in Nicaragua eine blutige Protestwelle, die Hunderte Todesopfer durch Staatsgewalt und viele Verhaftungen nach sich zog. Am 18. April 2019 waren zunächst vor allem Studenten auf die Straße gegangen, um gegen eine geplante Sozialreform zu protestieren. Zwar ließ die Regierung den Gesetzesvorschlag unter den Tisch fallen, die Demonstrationen weiteten sich trotz dessen immer weiter aus. Die Opposition, zu der auch Landwirte, Unternehmer und Teile der katholischen Kirche gehören, forderte unter anderem Neuwahlen. Die Sicherheitskräfte gingen hart gegen die Demonstranten vor. Nach Angaben der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) kamen bei den Protesten bislang mindestens 325 Menschen ums Leben. Die Regierung beziffert die Zahl der Todesopfer auf 199, Oppositionsgruppen auf über 550. Oppositionelle haben anlässlich des Jahrestags für Mittwoch zu einer Demonstration in der Hauptstadt Managua aufgerufen.

„Dass es wieder zu Protesten kommt, ist ein positives Zeichen, weil sie lange Zeit von der Regierung unterbunden worden waren“, erklärt der Politologe und Journalist, Leo Gabriel, im Sputnik-Interview. Gabriel zählt zu den renommiertesten Süd-Amerika-Experten. Das Mitglied des Internationalen Rates des Weltsozialforums (WSF) kennt die regierende Partei, einst die Guerilla- und Bürgerorganisation der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN), um Staatschef Daniel Ortega aus nächster Nähe. In den 1970er und 1980er Jahren berichtete er aus Nicaragua für die „Taz“ und die „Neue Züricher Zeitung“ unter anderem über die Revolution und die Machtergreifung der sogenannten Sandinisten. Seit 2007 sind die einstigen Guerilla-Kämpfer unter Präsident Ortega an der Macht.

Gabriel kritisiert die Ortega-Regierung als ein „total zentralistisch organisiertes Gefüge von Institutionen“. Als Ortega wieder an die Macht gekommen ist, habe eine „Demystifizierung“ des FSLN-„Comandante“ eingesetzt, weil man darauf gekommen sei, dass er alles andere als ein Demokrat sei. „Auch innerparteilich haben sich ganz maßgebliche Leute, alle Intellektuelle von ihm getrennt, die sich bis heute als Sandinisten verstehen. Es hat sich sozusagen eine neue sandinistische, ortegistische Oberschicht herausgebildet. Ob da wirklich alles rechtmäßig verlaufen ist, bleibt dahingestellt“, sagt der Nicaragua-Kenner. So wäre die Reform des Sozialversicherungssystems vor einem Jahr nur „ein Stein des Anstoßes“ gewesen. „Dem voraus ging eine ziemlich starke Ökologiebewegung. Und in verschiedenen anderen Zusammenhängen hat die Polizei da brutal zugeschlagen.“

Gespräch mit dem Diktator

Noch vor der Revolution lernte Gabriel den künftigen Langzeitmachthaber des zentralamerikanischen Landes kennen und traf ihn vor wenigen Wochen in der Managua persönlich. Das sei eine Interessante Begegnung gewesen, erzählt Gabriel. „Ich habe da gemerkt, dass seine Einschätzung der Situation, der Krise im April 2018, meiner Ansicht nach verfehlt ist. Und das habe ich ihm auch gesagt.“ Von der Regierung würden die Protestierenden als Handlanger des Imperialismus verteufelt. Ortega habe im Gespräch hinter den Protesten eine Fortsetzung der sogenannten „Contras“ gesehen, erzählt Gabriel.

„Contras“ sind eine Sammelbezeichnung für mehrere Guerilla-Gruppierungen, die ab 1981 die sozialistisch-sandinistische Bewegung in einem konterrevolutionären Krieg bekämpften. Einer der wesentlichen Unterstützer der „Contras“ war der damalige US-Botschafter in Honduras, John Negroponte, der unter anderem bis zum Ende der Regierung George W. Bush stellvertretender Außenminister unter Condoleezza Rice war.

Doch den Nicaragua-Experten Gabriel erinnern die aktuellen Proteste und Forderungen der Demonstranten, von denen er sich vor Ort selbst überzeugen konnte, eher an die der Sandinisten in den 1970er Jahren, die er als Linker seiner Zeit medial verfolgte und unterstützte. „Sie haben eine Kapitalismuskritik angebracht und haben Ortega verdammt, nicht weil er zu weit links steht, wie es in Venezuela der Fall war, sondern weil sie ihn zu weit rechts verordneten“.

Gleichzeitig bestünde die Möglichkeit, dass dem Präsidenten Ortega gewisse Informationen vorenthalten werden. „Denn die diejenige, die derzeit die Hosen an hat, ist seine Ehefrau.“ Rosario Murillo, die zudem Vize-Präsidentin des Landes ist, sei die eigentliche Managerin in der Regierung und nicht Ortega, der kaum in der Öffentlichkeit in Erscheinung trete, bemerkt Gabriel.

Auftritt der USA

Vor circa sechs Wochen habe sich der Staatschef dann doch aus seinem Wohnviertel herausgetraut, erzählt Gabriel. Denn ein Flugzeug mit drei hochrangigen Vertretern der US-Regierung sei in Managua gelandet. Ortega sei in die US-Botschaft gegangen. „Und dort hat man ihm richtige Drohungen ausgesprochen“, sagt Gabriel und beruft sich dabei auf Zeugen, die bei den Gesprächen anwesend waren. Man habe ihn daran erinnert, was mit Manuel Noriega passiert ist. Noriega war de facto Machthaber in Panama, der von einem US-Gericht wegen angeblichen Drogenhandels und einer Verschwörung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, in der er verstarb. „Man hat auch die militärische Option erwähnt und Kontos, die inzwischen gesperrt sind. Die hat man alle aufgezählt.“ Daraufhin habe sich Ortega „ziemlich rasch“ bereiterklärt, einen Dialog zu führen.

Die Verhandlungen werden jedoch nicht mit den eigentlichen Volksvertretern geführt, bemängelt der Politikwissenschaftler. Sondern mit den „obersten Wirtschaftstreibenden“ und Großunternehmern, wie der alte Oligarchen-Familie von Carlos Pellas und der Politikerin Violeta Barrios de Chamorro mit ihrem Parteibündnis „Unión Nacional Opositora“ (UNO). Letztere wurden von den Vereinigten Staaten unterstützt und löste die Sandinisten im Jahr 1990 ab. Das sei im Großen und Ganzen eine Verhandlung der Regierung mit den Reichen gewesen, die auf Druck der USA stattfand, „was innerhalb der Bevölkerung schlecht ankommt, weil die, die kritisiert haben, Opfer der Repression geworden sind, allesamt arme Leute sind“, beklagt Gabriel.
Neue US-Sanktionen

Daraufhin hat die nicaraguanische Regierung am Mittwoch 636 Gefangene in den Hausarrest entlassen. Nach Angaben des zivilgesellschaftlichen Bündnisses „Alianza Cívica“ seien nur 13 von ihnen politische Häftlinge, wie die Tageszeitung „La Prensa“ berichtete. Nach Angaben der Regimekritiker wurden innerhalb des vergangenen Jahres mehr als 800 Menschen bei Demonstrationen und anderen Protesten gegen die Regierung verhaftet.

Die Vereinigten Staaten haben trotz Einigungen den Druck auf Nicaragua erhöht. Der Sohn des nicaraguanischen Staatschefs, Laureano Ortega Murillo, wurde mit Sanktionen belegt. Zudem sanktionierte das US-Finanzministerium die „Banco Corporativ“, eine Bank in Nicaragua. Auch Venezuela und Kuba waren von der neuen US-Sanktionswelle betroffen. Das Vermögen der Betroffenen in den USA soll eingefroren werden. John Bolton, Trumps Sicherheitsberater bezeichnete Kuba, Venezuela und Nicaragua am Mittwoch bei einem Auftritt vor Exilkubanern in Florida als eine „Troika der Tyrannei“. Bolton sagte: „Wir müssen die Kräfte des Kommunismus und des Sozialismus zurückweisen.“

sputniknews


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