In Kalifornien dringt ein 19-jähriger Rassist am letzten Tag des Passahfestes in eine Synagoge ein und schießt dort auf betende Menschen.
Für uns europäische Juden waren diese schrecklichen Bilder ein Déjà-vu-Erlebnis. Tödliche Anschläge auf Synagogen gibt es hier seit Jahrzehnten: 1980 in Paris, 1981 in Wien, 1982 in Rom, 1989 in Brüssel und 2015 in Kopenhagen. 2012 wurde eine jüdische Schule in Toulouse angegriffen, 2014 das jüdische Museum in Brüssel, 2015 ein koscherer Supermarkt in Paris.
In meiner eigenen Gemeinde, in Moskau, zündete vor einigen Wochen ein Terrorist ein zu einer Jeschiwa gehörendes Gebäude an. 60 Menschen hatten sich dort zum Seder anlässlich des Passahfestes versammelt. Auch wenn glücklicherweise dort niemand zu Schaden kam: Der Schock ist groß.
In vielen europäischen Ländern, auch in Deutschland, gilt bei jüdischen Gotteshäusern schon länger die höchste Sicherheitsstufe. Ähnlich wie an Flughäfen müssen Menschen durch Sicherheitsschleusen, bevor sie Synagogen betreten können. Rund um die Uhr werden jüdische Gebäude von schwer bewaffneten Polizisten und Soldaten bewacht.
Auch auf Straßen und öffentlichen Plätzen trauen sich religiöse Juden oft nicht mehr, ihre Kippa zu tragen. Sie haben Angst, Opfer von Angriffen zu werden. Die jüngste Umfrage der EU-Grundrechteagentur FRA zur Stimmung unter Europas Juden ist alarmierend. Wenn sich nichts verbessert, hat das Judentum auf dem Kontinent langfristig keine Zukunft mehr.
Und nicht nur Juden, auch andere religiöse Minderheiten sind ins Fadenkreuz geraten. Die Anschläge auf Moscheen in Christchurch und auf Kirchen in Sri Lankahaben das internationale Ausmaß des Problems deutlich gemacht.
Im Artikel 10 der Grundrechtecharta der Europäischen Union wird die Religionsfreiheit garantiert: "Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit". Darin eingeschlossen ist ausdrücklich "die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen".
Sagen wir es klar und deutlich: Die freie Religionsausübung ist nicht mehr gewährleistet, wenn religiöse Menschen um ihr Leben oder das ihrer Angehörigen fürchten müssen und wenn sich eine Stimmung breitmacht, die den Platz von Religion in der modernen Gesellschaft ernsthaft infrage stellt.
Wir Juden sind vielleicht die Ersten, die von solchen Entwicklungen betroffen sind, aber wir sind nicht die einzigen. Erst trifft es die Minderheiten, dann auch die Mehrheit.
Die Bedrohungen sind vielfältiger Natur. Sie kommen von radikalisierten Muslimen, gewaltbereiten Rechtsextremisten, paramilitärischen Gruppen und auch von säkularen Fanatikern. Sie werden angefacht durch die rasante Verbreitung übelster Hasspropaganda im Internet und den sozialen Netzwerken.
Facebook, Twitter und Co. bekämpfen dieses Problem noch viel zu zaghaft und müssen eine größere Verantwortung übernehmen. Die 5700 Mitarbeiter von Facebook etwa, die das Hassmaterial ihrer zwei Milliarden Nutzer überwachen, sind ein trauriger Witz. Sie stehen exemplarisch dafür, dass noch ein weiter Weg zu gehen ist, wenn sich die schlimmen Bilder von Christchurch, Pittsburgh und San Diego nicht wiederholen sollen. Hier müssen wir mehr über digitale Sicherheit sprechen und dafür tun.
Die Sicherheit von Gotteshäusern ist nun auf der politischen Agenda. Man muss es so klar sagen: Hätten wir keine Polizisten oder Soldaten vor Synagogen, die Zahl der Anschläge auf jüdische Einrichtungen wäre wohl noch deutlich höher. Man kann es sich an den Fingern abzählen: Wenn das so weitergeht, stehen schwere Zeiten bevor.
Wir Juden haben uns vielleicht daran gewöhnt, dass wir hier nicht mehr wie unsere Vorfahren einfach in eine Synagoge spazieren können, sondern immer jemand dabei auf uns aufpassen muss. Wir sind dem Staat und auch den privaten Sicherheitsdiensten dankbar für den Schutz, den sie uns bieten.
Mehr noch: Wir fordern, dass die Schutzmaßnahmen in einigen EU-Ländern verbessert werden. Allzu oft überlassen Regierungen es den jüdischen Gemeinden selbst, das Notwendige zu tun. Das führt zu enormen Belastungen, gerade in finanzieller Hinsicht. In Zürich oder in München fließt bereits ein Viertel des Gemeindebudgets in Sicherheitsmaßnahmen, in der jüdischen Gemeinde Helsinkis ist es gar die Hälfte.
Der Schutz von Leib und Leben der Gemeindemitglieder muss selbstverständlich Priorität genießen.
Aber noch besser wäre es, endlich einmal die Ursachen dieser Gewalt anzugehen. Denn sollen wir wirklich uns auf Dauer damit abfinden, dass unsere Gotteshäuser bewacht werden müssen wie Flughäfen oder Regierungsgebäude? Dass wir unsere Kippa unter der Baseballmütze verstecken müssen, um nicht verprügelt zu werden?
Einmal abgesehen davon, dass Sicherheit enorm viel Geld kostet, sind diese Maßnahmen auch der sichtbare Beweis dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist in unseren scheinbar offenen Gesellschaften. Denn Europa bekommt den Hass auf Juden und andere Minderheiten nicht in den Griff.
Europa hat ein Problem mit Religion. Religiöse Riten und Traditionen werden nicht nur hinterfragt, sondern mit Verboten belegt. Vergangenes Jahr untersagten die belgischen Regionalparlamente das koschere Schächten. Auch das Verbot der religiösen Beschneidung von Knaben steht in manchen EU-Ländern auf der Tagesordnung. Das sind nur zwei von vielen Themen, die Gegenstand der Debatte auf der in dieser Woche in Antwerpen stattfindenden 31. Generalversammlung der Konferenz der europäischen Rabbiner (CER) sein werden.
Natürlich können wir unsere Synagogen zu Festungen ausbauen. Kurzfristig führt daran wohl kein Weg vorbei.
Aber längerfristig hat das Judentum in Europa nur dann eine Zukunft, wenn wir das Hass- und Gewaltpotenzial austrocknen.
Und: Europas Politiker und Bürger müssen zeigen, dass sie jüdisches Leben hier auch haben wollen, nicht nur mit Worten, auch mit Taten. Gelegenheit gibt es ja bald - bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, die auch eine Abstimmung darüber sein werden, inwieweit es um Sicherheit, Toleranz und Religionsfreiheit in Europa steht.
spiegel
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