Wie sich eine Kindheit in Armut anfühlt

  28 Februar 2020    Gelesen: 909
Wie sich eine Kindheit in Armut anfühlt

Die Wohnung schimmelt, der Vater verprügelt im Suff die Kinder, die depressive Mutter stirbt früh an Krebs - es ist ein dunkler Ort, an dem Christian Baron in den Neunzigerjahren in Kaiserslautern aufwächst. Der Journalist hat seine Kindheit in ein Buch gepackt, das weh tut, aber auch befreit. Denn "Ein Mann seiner Klasse" erzählt, was nicht oft zu lesen ist: Wie es sich anfühlt "da unten", in der Armut, über die es viele Zahlen und noch mehr Meinungen gibt in Deutschland, aber zu wenig ehrliche Geschichten.

Im Gespräch mit ntv.de erinnert sich Christian Baron an Momente des Glücks inmitten des Leids, schildert seinen Aufstieg in eine Klasse, in der er nie richtig heimisch wird, und erklärt, warum er seinen Vater trotz alledem versteht.

ntv.de: Was ist Ihre glücklichste Erinnerung an die Kindheit?

Christian Baron: Meine Eltern haben immer wieder Oasen des Glücks geschaffen. Einmal war mein Vater von der Arbeit suspendiert und zu stolz, zum Sozialamt zu gehen. Zwei Wochen lang haben wir gehungert. Als mein Vater steinharte Brötchen in einer Mülltonne gefunden hat, hat meine Mutter beim Frühstück so getan, als wären wir so eine Etepetete-Familie: Sie hat die Teetasse mit Daumen und Zeigefinger angefasst, den kleinen Finger abgespreizt und wir haben ganz hochgestochen geredet. Das war so ein spezieller Familienhumor, mit dem wir den Schmerz des Lebens ertragen haben.

Ihr Vater war Möbelpacker, er hat seinen Alltagsfrust im Alkohol ertränkt und oft an Ihnen, Ihren Geschwistern und Ihrer Mutter ausgelassen. Sie schildern aber auch Episoden, in denen er sich rührend um Sie gekümmert hat. War sein Verhalten für Sie vorhersehbar? 

Nein, und das war ein großes Problem. Für Kinder ist nichts wichtiger, als dass Eltern berechenbar sind, sonst verliert man das Urvertrauen. Mein Bruder und ich waren eine Schicksalsgemeinschaft - wir lagen in einem Doppelstockbett und wenn mein Vater aus der Kneipe heimkam, haben wir gegenseitig versucht, zu deuten, was auf uns zukommt. Das war wie Schmiere stehen.

Und manchmal hat er uns eben aus dem Bett geholt und die ganze Nacht mit uns "Super Mario" auf dem Nintendo gespielt. Diese Melodie löst bis heute in mir Glücksgefühle aus. Weil es Momente der Wärme waren in dieser dreckigen und unbeheizten Wohnung, Momente, in denen ich meinen Vater erlebt habe, wie ich ihn mir immer gewünscht habe.

Zu oft haben Sie seine gewalttätige Seite zu spüren bekommen. Wann haben Sie das erste Mal gemerkt: Es ist nicht normal, wenn der eigene Papa dich mit dem Kopf an die Wand pfeffert?

Mein Bruder und ich waren nicht im Kindergarten. Also hielten wir das lange für normal. Mein Vater hat ein bestimmtes Männerbild vorgelebt - als er einmal mit blauem Auge nach Hause kam, hat er gesagt: Papa hat sich geprügelt, das machen Männer so, das wirst auch du machen. Das habe ich geglaubt.

Erst in der Schule ist mir aufgefallen, dass sich andere Väter komplett anders verhalten. Nicht nur das: Auch meine Mitschüler waren so anders. Die lesen Bücher? Die gehen ins Kino? Die fahren in den Urlaub? Die Pausenmilch, die der Hausmeister für 50 Pfennig verkauft hat, konnten wir uns nicht leisten. Alle haben ihre Schokomilch getrunken und ich habe zum ersten Mal diesen Schmerz gespürt, anders zu sein, nicht normal zu sein.

Wie sind Sie als Kind damit umgegangen?

Ich habe getan, was meine Eltern auch getan haben: Ich bin in Scham versunken und habe zugesehen, dass niemand mitbekommt, wie es bei uns zu Hause aussieht. Ich hab mich versteckt, war introvertiert, schüchtern.

Wen haben Sie dafür verantwortlich gemacht, dass Sie sich anders als Ihre Mitschüler nichts leisten konnten?

Meinen Vater. Weil er das Geld versoffen hat, weil er uns verprügelt hat. Ich habe immer gedacht: Der geht doch jeden Tag arbeiten, wie andere Väter auch, aber die können sich alles leisten. Kein Chef zahlt doch seinem Arbeiter so wenig, dass er seine Familie nicht ernähren kann. Erst als Erwachsener wurde mir klar: Er war an vielem schuld, aber nicht daran, dass wir arm waren.

Sie haben Ihr Buch "Ein Mann seiner Klasse" genannt und fokussieren sich auf Ihren Vater - warum nicht auf Ihre Mutter, zu der Sie doch ein viel innigeres Verhältnis hatten?

Weil ich mit dem Mann noch lange nicht fertig bin. Daraus resultiert die innere Dringlichkeit, dieses Buch zu schreiben. Meine Mutter ist in meiner Erinnerung das reine Gute. Sie ist gestorben, als ich zehn Jahre alt war. Sie hatte wenig Gelegenheit, mir das Gegenteil zu beweisen. Die Beziehung zu meinem Vater ist von Extremen geprägt. Er war lange eine klar böse Figur für mich. Erst seit sechs Jahren bröckelt das. Mein Bruder, der kein Abitur gemacht hat wie ich, der nie Soziologie studiert hat, sagte zu mir: Ja, unser Vater konnte ein Arschloch sein. Aber er war der, der er wegen seiner Herkunft sein musste.

Das stimmt: Er hatte selber einen alkoholkranken, prügelnden Vater. Er kannte keine positiven Frauenfiguren, weil seine Mutter früh die Familie verlassen hatte. Diese Einsicht hat einen Prozess ausgelöst in mir: Ich wollte diesen Mann verstehen, ohne etwas zu entschuldigen. Dafür ist die Literatur das beste Mittel - um Empathie für Menschen zu entwickeln.

In Ihrem Leben sind immer wieder Figuren aufgetaucht, die Ihnen geholfen haben: Ihre Tante, die Sie und Ihre Geschwister aufgenommen hat. Eine Lehrerin, die mehr in Ihnen gesehen hat als andere. Haben nur einige Zufälle dafür gesorgt, dass Sie heute nicht genau wie Ihr Vater sind?

Ja und nein. Aus der Perspektive der Leute, die mir geholfen haben, war das ein bewusstes Ziel. Ich hatte das Glück, an den wichtigen Stellen meines Lebens auf Leute zu treffen, die etwas in mir gesehen haben. Aus meiner Perspektive sind es Zufälle. Ich hätte klug wie Einstein sein können, aus eigener Kraft hätte ich diesen Aufstieg nicht geschafft. Im deutschen Bildungssystem ist es nicht gewünscht, dass jemand wie ich Abitur macht.

Sondern nur die Kinder der Ober- und Mittelschicht, die dann in den Redaktionen und in der Politik landen. Hören wir deswegen so wenig Geschichten über Armut?

Es wird ja wahnsinnig viel über soziale Ungleichheit und Armut berichtet. Aber die Art und Weise finde ich grenzwertig. Dieses Narrativ, das spätestens seit Hartz IV herrscht: Wer in Deutschland arm ist, der ist selbst verantwortlich. Niemand sollte in diesem reichen Land in Armut leben. Abgesehen davon knüpft das Narrativ an das Versprechen im Kapitalismus an, dass jeder es aus eigener Kraft schaffen kann. Dieses Versprechen ist so leer wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Viele Sachbücher thematisieren das, aber wir sprechen mit zu wenig Empathie darüber. Wenn wir keine atomisierte Gemeinschaft aus Parallelgesellschaften wollen, brauchen wir mehr solche Geschichten.

Sie sind heute Journalist und Buchautor, leben in Berlin und führen ein ganz anderes Leben als Ihre Geschwister, die in Kaiserslautern geblieben sind. Ihr Bruder hat Ihnen öfter vorgeworfen, dass Sie sich verpisst haben. Verstehen Sie das?

Ja, und es verletzt mich sehr. Aber wir haben das aufgearbeitet. Als ich mit dem Studium anfing, hat mein Bruder seine Ausbildung abgebrochen. Da kam ich als kleiner Bruder nach Hause und sagte: Was machst du für eine Scheiße? Dabei hatte ich gut reden - ich war angekommen an der Uni, hatte mein BAföG sicher, einen Nebenjob, ein Milieu, das mich akzeptiert hat. Mein Bruder hatte dieses soziale Netz nicht, das ein junger Mensch braucht, der mal über die Stränge schlägt. Damals war ich für ihn der arrogante Besserwisser, jetzt bemühe ich mich umso mehr, dass mir das nicht mehr passiert.

Verspüren Sie so eine Art Stolz auf Ihre Herkunft?

Ja, ich bin stolz darauf, ein Proletarierkind zu sein, das zelebriere ich auch gern mal, aber nur im Privaten. Und mein Bruder sagt dann: Du bist keiner von uns, du bist jetzt in der großen Stadt.

Dabei fühle ich mich in den Redaktionskonferenzen immer noch minderwertig - ohne dass mich jemand so behandeln würde. Aber ich habe das Gefühl, ich gehöre da nicht hin, ich kann da auch nicht ankommen. Alle sind klüger als ich. Und ich ziehe mich in mein Büro zurück und hoffe bei jedem Text, dass der es in die Zeitung schafft. Ich würde gern beiden Seiten gerecht werden und stehe irgendwie zwischendrin. Aus der Rolle werde ich wohl nicht mehr rauskommen.

Sie waren nicht am Totenbett Ihres Vaters. Bereuen Sie das heute?

Ja, sehr. Aber heute habe ich Verständnis für mein damaliges Ich. Ich war 18, stand drei Monate vor den Abiprüfungen, als Erster in meiner Familie. Da kriege ich die Nachricht, dass mein Vater, den ich zwei Jahre nicht gesehen hatte, im Sterben liegt. Und dachte: Für das, was der uns angetan hat, darf ich ihm jetzt nicht noch auf dem Sterbebett die Absolution erteilen. Mein Bruder war auch damals lebensklüger als ich - er ist sehr glücklich, dass er sich verabschiedet hat. Das hat ihn in die Lage versetzt, mir Jahre später zu sagen: Ein bisschen Verständnis für unseren Vater musst du auch haben.

ntv


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