Schutzbrillen aus dem Heimwerkermarkt

  18 März 2020    Gelesen: 793
Schutzbrillen aus dem Heimwerkermarkt

Das spanische Gesundheitssystem hatte lange einen guten Ruf. Jetzt steht es kurz vor dem Kollaps. Das Land hat die vierthöchste Zahl bestätigter Coronavirus-Infektionen auf der Welt. Vor allem rund um Madrid gerät die Lage außer Kontrolle.

Fallschirmjäger mit Masken vor dem Gesicht laden Matratzen in einen Militärlastwagen. In Alcala de Henares bei Madrid leistet ein geschlossenes Hotel auf diese Weise Nothilfe. Im Principe-de-Asturias-Krankenhaus in der Nähe entstehen auf diese Weise 45 weitere Notbetten – in der Bibliothek und im Bewegungszentrum. Mehr als 200 Patienten, die mit dem Coronavirus infiziert sind, hat die Klinik in den vergangenen Tagen aufgenommen; jeden Tag kämen etwa dreißig neue Patienten dazu, berichteten Krankenpfleger.
In Spanien reichen die vorhandenen Klinikbetten nicht mehr aus. Alleine in den Intensivstationen der Region um die Hauptstadt lagen am Dienstag 340 Schwerkranke. Zur Entlastung hat im Zentrum von Madrid der Eigentümer des Gran Hotel Colón sein leerstehendes Vier-Sterne-Haus als Notlazarett für leichtere Fälle angeboten. Es liegt direkt gegenüber dem Gregorio-Marañón-Krankenhaus, der wichtigsten Notfallklinik der Hauptstadt.

Das spanische Gesundheitssystem kämpft um das eigene Überleben. Besonders in der Region um die Hauptstadt ist die Ausbreitung des Virus schon seit Tagen außer Kontrolle. Im ganzen Land wurden seit Montag fast 2000 neue Infektionen registriert. Mehr als 11.000 Menschen haben sich bisher angesteckt, fast 500 sind gestorben, 563 liegen auf der Intensivstation.

Mit 4871 Infizierten und 355 Todesfällen ist die Region von Madrid am stärksten betroffen. Nicht nur dort kann sich das medizinische Personal oft nicht selbst richtig schützen. Am Dienstag waren im ganzen Land 450 Schwestern, Pfleger und Ärzte infiziert.

„Wir sind wie das Orchester auf der Titanic“

Aus Alcala de Henares wird berichtet, dass die verzweifelten Klinikchefs in einen Heimwerkermarkt gegangen seien, um dort Schutzbrillen zu kaufen, und sie aus der eigenen Tasche bezahlt haben. Für die schwerkranken Patienten fehlt es vor allem an Beatmungsgeräten. Krankenhausmitarbeiter fühlen sich immer häufiger wie im Krieg, wie sie zum Beispiel dem Sender Telecinco berichteten: In der Notaufnahme müsse entschieden werden, wer zu retten ist und wer nicht. „Wir sind das Orchester auf der Titanic, das spielt, während alles untergeht“, klagt ein Madrider Facharzt.

Die Regierung versucht, die Notlage zu lindern, indem sie den autonomen Regionen erlaubt, auf die Einrichtungen des privaten Gesundheitswesens zurückzugreifen. Bis Dienstag mussten alle Firmen, die dringend benötigte Hilfsmittel herstellen können oder in ihren Beständen haben, sich bei den Behörden melden. In der andalusischen Stadt Jaen beschlagnahmte die Polizei 150.000 Gesichtsmasken. Zugleich sucht man fieberhaft nach medizinischem Personal. So werden die Verträge der Medizinstudenten im ihrem Anerkennungsjahr verlängert. Krankenhäuser werben mit Prämien um spezialisierte Pfleger.

Bisher waren viele Spanier stolz auf ihr durch Steuern finanziertes Gesundheitssystem; laut der Weltgesundheitsorganisation WHO ist es das siebtbeste auf der Welt. Doch bis heute wirken die Kürzungen und Privatisierungen der großen Wirtschaftskrise vor gut einem Jahrzehnt nach. Das hatte möglicherweise schon fatale Folgen auf die Krisenressourcen: In dem Land mit den viertmeisten bestätigten Infektionen auf der Welt wird viel zu wenig getestet.

Nach Berechnungen der Zeitung „La Vanguardia“ sollen die bekannten gut 11.000 Fälle nur die „Spitze des Eisbergs“ sein. In Wirklichkeit könnten es schon heute mehr als 100.000 sein. In Spanien werden derzeit nur Patienten getestet, die schwere Symptome zeigen.

Am Dienstag kündigte das Gesundheitsministerium an, dass die Tests in den nächsten Tagen ausgeweitet werden sollen. Nach offiziellen Angaben wurden in Spanien seit dem Beginn der Krise bis zum Sonntag nur 30.000 Tests vorgenommen. Die Unklarheit über Infektionsschwerpunkte und Übertragungswege hat dazu beigetragen, dass sich besonders in Madrid das Virus zunächst in Senioreneinrichtungen unbemerkt ausbreitete. Überstürzt wurden dann alle Tagesstätten geschlossen und Heime isoliert.

Doch es war schon zu spät. Am Dienstag meldete die Zeitung „El Mundo“, dass in einem privaten Altersheim mindestens zwanzig Bewohner aufgrund einer Coronavirus-Infektion gestorben seien. Bis zu siebzig Personen seien dort infiziert, zu denen auch Pflegepersonal gehöre. Die Tatsache, dass das Virus sich zuerst in Altenheimen ausgebreitet habe, nennt man in Spanien als einen Grund für die im internationalen Vergleich relativ hohe Sterblichkeitsrate von drei Prozent.

faz.net


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