Was keiner zählt, das gibt es nicht

  28 Juni 2020    Gelesen: 534
Was keiner zählt, das gibt es nicht

In Deutschland existieren kaum Zahlen zu rassistisch motivierter Polizeigewalt. Einzelfälle, heißt es aus den Behörden. Doch woher soll man wissen, ob es ein strukturelles Problem gibt, wenn niemand es erfasst?

2019 zählte die Polizei 172 räuberische Angriffe auf Kraftfahrer, bei denen mit einer Schusswaffe gedroht wurde. Sie zählte 17.336 Fälle, bei denen mit dem Tatmittel "Internet" pornografisches Material verbreitet wurde. Außerdem erfasste sie, dass von 1518 aufgeklärten Fällen des Totschlags oder der Tötung auf Verlangen 506 unter Alkoholeinfluss verübt wurden - also exakt ein Drittel. All diese Zahlen lassen sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) finden.

Was nicht in der Statistik steht: Wie oft Polizeibeamte zu Tätern wurden - und wie oft aus rassistischen Motiven. Weder in der Polizeilichen Kriminalstatistik noch in der Staatsanwaltschaftsstatistik finden sich Zahlen dazu, wie oft Polizisten rassistisches Profiling oder rassistische Gewalt vorgeworfen wurde - oder auch nur, wie viele Anzeigen es aus diesen Gründen gegen Beamte gab. In den bundesweiten Statistiken zu "politisch motivierter Kriminalität" finden sich Zahlen von Übergriffen gegen Polizisten - aber nicht über solche, die von ihnen ausgegangen sein könnten. Dabei handelt es sich bei dieser Statistik um eine sogenannte Eingangsstatistik. Das heißt, die Straftaten werden bereits beim ersten Anfangsverdacht erfasst.

Zentrale Daten
Rassismus bei der Polizei ist in Deutschland ein heikles Thema. Kritik an der Polizei schlägt oft massive Gegenwehr entgegen. Das Problem: Wenn es keine Institution gibt, die das Ausmaß von rassistischer Polizeigewalt erfasst, kann ihre Existenz weder bewiesen noch widerlegt werden. 

Die Vereinten Nationen und der Europarat fordern Deutschland schon seit Jahren dazu auf, unabhängige Beschwerdemechanismen gegenüber der Polizei zu schaffen. Diese könnten auch zentral Daten sammeln. Deutschland lehnte dies bislang ab. Die Begründung: Anders als in Großbritannien werden die Ermittlungen hier von der Staatsanwaltschaft geleitet, die allerdings regelmäßig auf die Unterstützung durch die Polizei zurückgreift. Daher fehle die praktische Unabhängigkeit und das Vertrauen von Betroffenen, sagt Eric Töpfer vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Der Berliner Verein ist politisch unabhängig und wird aus dem Bundeshaushalt finanziert.

Die Bundesländer verfolgen verschiedene Ansätze. In Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gibt es Polizeibeschwerdestellen, die an das Amt der Bürgerbeauftragten angegliedert sind und somit den Landesparlamenten unterstehen. In Hamburg, Bremen und Bayern gibt es Dezernate für interne Ermittlungen, die nicht der Polizei, sondern direkt dem Innensenator beziehungsweise -minister unterstellt sind. In Thüringen und Sachsen unterstehen die Beschwerdestellen den Innenministerien, in Berlin dem Polizeipräsidenten.

Die unterschiedlichen Erscheinungsformen und Verantwortlichkeiten bergen ein weiteres Problem: Nicht überall, wo Polizeigewalt erfasst wird, geschieht das nach denselben Definitionen und Kategorien. Das zeigt eine Anfrage des SPIEGEL bei den verschiedenen Polizei- und Ermittlungsstellen.

Die Fragen orientierten sich an den Kategorien der Staatsanwaltschaftsstatistik. Sie unterscheidet bei Straftaten zum Beispiel zwischen "Gewalt und Aussetzung durch Polizeibedienstete" und "Zwang und Missbrauch des Amtes". In Bremen, Hamburg, Berlin und Schleswig-Holstein waren die Begrifflichkeiten nicht bekannt - in Thüringen, Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg hingegen schon. Vergleiche zwischen Bundesländern anzustellen, wird so nahezu unmöglich. 

spiegel


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