Venezuelas letzte Ölbohrung ist gestoppt

  17 Juli 2020    Gelesen: 902
  Venezuelas letzte Ölbohrung ist gestoppt

Früher sprudelten Venezuelas Öleinnahmen und finanzierten den Staat fast komplett. Nun steht womöglich ein historischer Fördertiefpunkt bevor. Im Juni ist nicht einmal mehr gebohrt worden. Auch wegen der US-Sanktionen gegen Caracas.

Wenn Historiker, Politiker oder Journalisten über größere Zeiträume sprechen, verteilen sie gerne Bezeichnungen wie: "Goldenes Jahrzehnt", "Große Depression" oder "Wirtschaftswunder". Im Falle Venezuelas könnte es bald heißen: "Das verlorene Jahrhundert". Die tägliche Rohölproduktion des südamerikanischen Landes ist im Juni zwischenzeitlich auf unter 300.000 Fass gesunken. Ende 2020 werden es so wenig wie im Jahr 1929 sein, schätzt das Baker Institut in Houston. Dies bedeute eine Pro-Kopf-Produktion wie vor fast 100 Jahren.

Die Gründe sind einerseits die veralteten und schlecht gewarteten Anlagen, andererseits die Sanktionen der USA gegen den Erdölproduzenten PDVSA, die seit Januar 2019 internationale Geschäfte mit Venezuelas Staatskonzern verbieten. Die Lagerkapazität gerät deshalb an ihre Grenze, und die PDVSA verringert ihre Produktion noch mehr, meldet die Nachrichtenagentur Reuters. Die Zukunft der staatlichen Ölindustrie sieht schlecht aus: Im Juni gab es keine einzige aktive Ölbohrung mehr im Land, meldet das US-Beraterunternehmen Baker Hughes, das die weltweite Ölproduktion beobachtet.

Obwohl in ganz Lateinamerika wegen der Corona-Pandemie die Ölförderung historisch niedrig ist - in Venezuela ist die Situation extrem. In den vergangenen 100 Jahren hatte das Land immer aktive Bohrungen, sogar während des großen Ölstreiks 2003. Aber jetzt nicht mehr. "Falls du keine einzige aktive Bohrung hast, folgt sofort ein Produktionsabfall von 20 Prozent. Bohrungen zu reaktivieren ist teuer und verringert die Fördermenge", wird Experte Francisco Monaldi von "El País" zitiert. Auf dem Höhepunkt des Ölsektors in den 1990er Jahren hatte Venezuela demnach fast 120 aktive Bohrungen. Im vergangenen Jahr waren es noch mindestens 20.

Staatskonzern nur noch ein Gerippe

Öl war für Venezuela auch immer ein Fortschrittsversprechen. Doch viel Zeit ist vergangen, seit der ehemalige Staatschef Hugo Chávez sowohl den eigenen Machtzirkel als auch die Bevölkerung des vorgeblich sozialistisch regierten Landes versorgen konnte. Unter Nachfolger Nicolás Maduro hat sich die "bolivarische Republik" in das despotisch regierte Armenhaus des Kontinents verwandelt, abgekoppelt von der regionalen Entwicklung. Dabei definierte sich Venezuela in der Vergangenheit vor allem über seinen Ölreichtum. Fast der gesamte Staatshaushalt wird - oder wurde - von Ölexporten des Staatskonzerns PDVSA finanziert. Nirgendwo auf der Welt liegen offiziell so große Erdölressourcen wie auf dem Gebiet des karibischen Staates.

Die Förderung und Raffinierung der venezolanischen Reserven sind jedoch teuer. Der Ölpreis bewegt sich seit vielen Jahren deutlich unter 100 Dollar. Die Krise des venezolanischen Ölsektors begann schon unter Chávez, als die Ölproduktion von 3,4 Millionen Fass pro Tag wegen fehlender Wartung der Anlagen sank, aber der hohe Ölpreis die finanziellen Folgen einigermaßen abfederte. Ausreichende Geldreserven für nötige Investitionen in die Anlagen der PDVSA hatte das Land nie angelegt. Nun ist die staatliche Ölgesellschaft nur noch ein Gerippe. Von ehemals über 140.000 Mitarbeitern sind wenige Tausend geblieben.

Die Venezolaner waren lange gewöhnt, dass Treibstoff immer verfügbar und dank Subventionen geradezu geschenkt war. Inzwischen ist Benzin rar. Die Raffineriekapazität des Landes lag einmal bei 1,3 Millionen Fass pro Tag. Seit Anfang Juni ist wenigstens eine Raffinerie wieder in Teilbetrieb und liefert 30.000 Fass pro Tag, wie Reuters berichtet. Doch es fehlen Arbeiter sowie Käufer des produzierten Benzins, um damit Geld zu verdienen, moniert ein regierungskritischer Gewerkschaftler.

Zuletzt gab es im vergangenen Monat wieder Treibstoff für die Bevölkerung, als es ein paar iranische Tanker mit 1,5 Millionen Fass in die Häfen geschafft hatten. Auch gegen den Ölsektor der Islamischen Republik haben die Vereinigten Staaten Sanktionen verhängt. Um Caracas vom internationalen Handel zu isolieren und damit Maduro noch mehr Spielraum zu nehmen, übt Washington seit Beginn des Jahres zusätzlichen Druck auf internationale Reedereien, Versicherungsunternehmen und Staaten aus, unter deren Flagge die Tanker operieren.

Laut einem US-Regierungsmitarbeiter bestrafen die Lizenzgeber auf Betreiben der Vereinigten Staaten solche Unternehmen bei Verstößen gegen US-Sanktionen auch nachträglich. Schiffsbetreiber können Tanker und Ladung in einem solchen Fall nicht mehr versichern. Allein im Juni wurde so sechs Reedereien die Lizenz entzogen, weil sie Handel mit Venezuela betrieben.

Manchmal ist schlicht nicht klar, ob ein Unternehmen, das dortige Häfen mit anderer Ladung anläuft, gegen Sanktionen verstoßen hat, gibt der größte Versicherer an - und kann deshalb nicht zusagen, dass ihre Versicherung im Fall der Fälle greift. Dies verschärft die Versorgungslage des Landes zusätzlich und ist womöglich etwas, das Elliott Abrams, der Sonderbeauftragte der US-Regierung für Venezuela, und das Weiße Haus billigend in Kauf nehmen: "Die meisten Schiffseigner, Kapitäne und Versicherer werden einfach einen Bogen um Venezuela machen", sagte Abrams vor wenigen Tagen: "Es ist den Aufwand oder das Risiko nicht wert."

120 Milliarden Dollar fehlen

Angesichts des Klimawandels und alternativer Energiekonzepte ist Öl zwar keine Zukunftsindustrie. Aber es gibt trotzdem Stimmen, die aus venezolanischer Sicht hoffen lassen. Ein Ölpreis von über 100 Dollar ist in den kommenden Jahren durchaus möglich, wie das "Wall Street Journal" zuletzt analysierte. Angesichts sinkender Produktion wird etwa ein Vertreter von "Northern Trace Capital" zitiert, der Ölpreis könne in den kommenden fünf Jahren "problemlos" auf über 150 Dollar steigen. So hoch war er in der Geschichte bislang nur einmal: Im Juni 2008, bevor die Finanzkrise die Welt erfasste.

Trotz der weltweiten Energiewende habe Venezuela noch etwa 20 Jahre Zeit, um von seinem Ölreichtum zu profitieren, so Francisco Monaldi. Um die weltweite Ölnachfrage in den kommenden zehn Jahren zu befriedigen, geht die Beraterfirma JP Morgan von 625 Milliarden Dollar zusätzlich nötigen weltweiten Investitionen aus. Allein 120 Milliarden Dollar müssten es in Venezuela sein, schätzen die Mitarbeiter von Venezuelas selbsternanntem Interimspräsidenten Juan Guaidó. Doch in Venezuela herrscht seit Jahren eine politische Pattsituation zwischen ihm und Maduro. Die Weltwirtschaft steckt in der Krise. Und niemand weiß, woher das Geld derzeit kommen soll.

Quelle: ntv.de


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