"Wir hätten zwei tote Fahrer haben können"

  17 Auqust 2020    Gelesen: 1002
  "Wir hätten zwei tote Fahrer haben können"

Kurz vor der Tour de France ist das Feld durch etliche Stürze bei der Dauphiné-Rundfahrt heftig erschüttert worden. Besonders schwer trifft es das Team Bora-hansgrohe. Einen Horrorsturz gibt es in der Lombardei. Die Wut der Radsport-Szene auf die Rennorganisatoren wächst.

Belgiens Wunderknabe Remco Evenepoel flog in der Lombardei kopfüber von einer Brücke, Maximilian Schachmann wurde von einem Auto über den Haufen gefahren, Emanuel Buchmann landete nach einem Massencrash bei der Tour-Generalprobe im Krankenhaus: Zehn Tage nach dem Horror-Unfall von Fabio Jakobsen erschüttern wieder schlimme Stürze den Profi-Radsport, der im Fall von Jakobsens Teamkollegen Evenepoel erneut an einer Tragödie vorbeischlitterte. Der erste Profisieg von Buchmann-Helfer Lennard Kämna bei der Dauphine geriet da in den Hintergrund.

"Durch Emus Sturz ist das ein bittersüßer Erfolg für mich. Ich hoffe, dass er okay ist - wir brauchen ihn für die Tour", sagte der 23 Jahre alte Kämna, der bei der schweren Ankunft in Megeve als Solist triumphierte: "Eigentlich sollte ich die Relaisstation für Emu sein. Er sollte am vorletzten Anstieg angreifen." Dazu kam es nicht: Buchmann war nach 29 Kilometern bei der grenzwertigen Abfahrt vom Col de Plain Bois gestürzt und musste aufgeben. Im Krankenhaus gab es für die deutsche Tour-Hoffnung Entwarnung: Nichts gebrochen. "Emanuel hat jedoch starke Prellungen im Rücken- und Gesäßbereich. Er kann kaum laufen", sagte der Sportliche Leiter Enrico Poitschke.

Bei der Tour, die am 29. August beginnt, muss Buchmann eventuell auf einen Tophelfer verzichten: Der zuletzt bärenstarke Schachmann erlitt bei der vom Dänen Jakub Fuglsang gewonnenen Lombardei-Rundfahrt einen Schlüsselbeinbruch. Der Tourstart ist für den Paris-Nizza-Sieger in großer Gefahr, auch wenn Schachmann nicht operiert werden muss. "Zum Glück ist es 'nur' das Schlüsselbein. Es gibt Tage, da hat man sein Schicksal nicht selbst in der Hand", sagte er mit Blick auf groteske Sicherheitsmängel beim Traditionsrennen. Eine Autofahrerin war kurz vor dem Ziel vor Schachmann auf die Strecke gefahren und hatte den Berliner rücksichtslos abgeräumt. Schachmann quälte sich schimpfend und als Siebter ins Ziel, die Polizei ermittelt.

"Halt die Klappe! Du bist am Leben, nur das zählt"

Noch schlimmer erwischte es Senkrechtstarter Evenepoel, dem bei seinem lebensgefährlichen Abflug alle Schutzengel beistanden. Der 20-Jährige, der sein erstes Radsport-Monument bestritt, rammte auf der tückischen Abfahrt von der Muro di Sormano den ungesicherten Vorsprung einer Brückenmauer und stürzte fast zehn Meter tief in eine Schlucht. Nach bangen Minuten wurde Evenepoel geborgen - mit einem Beckenbruch kam er noch glimpflich und vor allem lebendig davon.

"Remco hat sich bei mir entschuldigt. Ich sagte: Halt die Klappe! Du bist am Leben, nur das zählt", meinte Quick-Step-Teamchef Patrick Lefevere: "Ich habe mehrmals dem Weltverband klarmachen wollen, dass solche Abfahrten einfach nicht möglich sind, aber nichts ändert sich." Der Schock nach dem Zielsprint-Drama um den niederländischen Meister Jakobsen, der am 5. August bei der Polen-Rundfahrt in die Absperrung geknallt war, steckte Lefevere noch in den Knochen: "Wir hätten zwei tote Fahrer haben können, da denkst du nicht mehr über Rennen und Siege nach." Am Sonntagnachmittag teilte das Team mit, Evenepoels Zustand entwickle sich "gut". Er solle so schnell wie möglich in seine Heimat gebracht werden.

Die Geschehnisse sorgen für immer lautere Alarmstimmung. Bei der Dauphine-Abfahrt, die Buchmann zum Verhängnis wurde, stürzte auch Jumbo-Visma-Star Steven Kruijswijk schwer, wenig später erwischte es seinen Kapitän Primoz Roglic heftig. Kruijswijk gab mit ausgekugelter Schulter auf, Tour-Favorit Roglic trat trotz Gesamtführung am Sonntag nicht mehr an.

Ihre Teamkollegen schimpften angesichts der Sicherheitsmängel bei der vom Tour-Veranstalter A.S.O. organisierten Dauphine. "Die Abfahrt war lebensgefährlich, ein Ziegenpfad mit Schotter. Eine Schande, dass so was im modernen Radsport möglich ist", schimpfte Ex-Giro-Sieger Tom Dumoulin. Tony Martin fragte: "Was muss noch alles passieren, bis sich etwas ändert?" Am Sonntag gab es erste Konsequenzen bei der Dauphine: Die Profis legten aus Protest die ersten zehn Abfahrts-Kilometer nach dem Start neutralisiert zurück, weil Renntempo zu gefährlich gewesen wäre - auch hier war es ein "Ziegenpfad".

Quelle: ntv.de, tno/sid


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