Die vietnamesischen Waffeln waren in einem der Lebensmittelpakete der UNO enthalten gewesen, die über die Luftbrücke - auch sie war die längste seit dem Zweiten Weltkrieg, länger noch als jene für Berlin - zu den mehr als 300.000 Eingeschlossenen kamen. Eingeschlossen von den eigenen Landsleuten. Rund um die Stadt und auf den Hängen der sie umgebenden Berge die Stellungen der bosnischen Serben (anfangs noch der sogenannten jugoslawischen Bundesarmee), unten im Kessel die Verteidiger, überwiegend bosnische Kroaten und Muslime, aber auch Serben. Ein großer Teil waren Zivilisten, auch wenn manch einer schließlich selbst zu den Waffen griff.
In der Nacht auf den 5. April 1992 war mit der Einnahme des Flughafens Ilidza durch die Bundesarmee der Krieg nach Sarajewo gekommen. Präsident Alija Izetbegovic, ein Muslim, hatte es zunächst nicht einmal für möglich halten wollen, dass sich die Ereignisse von Kroatien in seinem Land wiederholen könnten (tatsächlich wurde es dann noch schlimmer als in Kroatien), und nun war sogar Sarajewo im Visier, das oft als Beispiel eines friedlichen Zusammenlebens zitiert worden war.
Zusammenleben wollten Anfang der 90er-Jahre allerdings weder die bosnischen (korrekterweise zumeist herzegowinischen) Kroaten und die Muslime im jugoslawischen Gesamtstaat, noch die bosnischen Serben in einem unabhängigen Bosnien und Herzegowina, in dem sie in der Minderheit wären (und heute auch sind). Nach einigem Hin und Her erkannte die Europäische Gemeinschaft am 6. April Bosnien und Herzegowina an, bereits am Tag darauf erklärte eine "Republika Srpska" ihrerseits die Unabhängigkeit, unter dem Schutz der jugoslawischen Armee, die ihre Stellungen rund um Sarajewo zügig ausbaute.
Serbiens damaliger Präsident Slobodan Milosevic, der starke Mann in Jugoslawien, ging pro forma auf internationale Forderungen ein und zog jene Soldaten, die nicht aus Bosnien stammten, ab. Militärisches Gerät wurde aber den nunmehrigen Streitkräften der Republika Srpska großzügig überlassen, was ihnen einen wichtigen Vorteil verschaffte. Zudem kämpften zahlreiche Milizen und Freiwillige aus Serbien an ihrer Seite.
Gang auf die Straße wurde zur tödlichen Gefahr
Noch etwas war an jenem fünften April geschehen: Das, was die fast vier Jahre der Belagerung prägen sollte, nahm seinen Anfang. Vermutlich vom Hotel Holiday Inn aus, damals noch nicht Hauptquartier der Kriegsreporter sondern des bosnischen Serbenführers Radovan Karadzic, töteten Scharfschützen zwei junge Frauen, die an einer Demonstration teilgenommen hatten. Die hinterhältige Ermordung von Menschen gehörte fortan zum Alltag der Einwohner, der Gang auf die Straße, um sich mit dem Nötigsten, beziehungsweise dem Verfügbaren, einzudecken, wurde zur tödlichen Gefahr. Mehrere hundert Menschen kamen auf diese Weise ums Leben, mehrere tausend wurden verletzt. Und wer die Getroffenen bergen wollte, geriet selbst in die Schusslinie. Berichtet wurde indes auch über irrwitzige Formen des Trotzes, über Menschen, die nach heiler Überquerung einer gefährlichen Stelle noch einmal kurz zurücksprangen und ihren Mittelfinger in die vermutete Richtung der Scharfschützen streckten.
Eine Ikone des Widerstands wurde auch Vedran Smajlovic, bekannt geworden als der "Cellist von Sarajewo". Er musizierte auf den Straßen und in Schutzräumen, ein berühmtes Foto zeigt ihn 1992 mit seinem Cello in den Trümmern der zerstörten Nationalbibliothek. 1993 gelang es ihm, die Stadt zu verlassen. Er trat dort erst wieder am 5. April 2012 auf, dem 20. Jahrestag des Beginns der Belagerung. Der Überlebenswille der Bewohner war ungebrochen: Trotz des permanenten Beschusses - pro tag gingen etwa 300 Granaten auf die Stadt nieder, es konnte aber auch die zehnfache Menge sein - organisierte man Sportveranstaltungen und sogar Misswahlen.
Die Staatengemeinschaft sah dem Krieg lange hilflos zu, zum militärischen Eingreifen nicht bereit. Was blieb, war die Linderung der prekären Versorgungssituation: zwischen Juli 1992 und Jänner 1996 wurden, koordiniert vom UNHCR, in 12.000 Flügen rund 160.000 Tonnen Lebensmittel und andere dringend benötigte Güter eingeflogen. Ein von den Verteidigern gegrabener Tunnel bildete quasi die Nabelschnur der Stadt. In der Gegenrichtung wurden 1100 Kranke und Verletzte zur medizinischen Behandlung ausgeflogen.
Es schien, als hätten sich die politischen Entscheidungsträger in Europa und den USA mit dem Krieg in Bosnien abgefunden. Doch dann ereignete sich am 28. August 1995 ein Massaker, das letztlich die Meinung kippen ließ: Beim Beschuss des Markale-Marktes durch serbische Granaten wurden mindestens 37 Zivilisten getötet. Dann ging es ganz schnell: die Nato startete ihre Operation "Deliberate Force", griff Stellungen der bosnischen Serben an, und führte so die Dayton-Friedensverhandlungen herbei, die immerhin den Krieg beendeten, auch wenn sie kein funktionales Nachkriegs-Bosnien schufen.
Die Belagerung von Sarajewo hatte übrigens einen österreichischen Epilog: Unter den Verteidigern der Stadt befand sich auch der eine oder andere Serbe, der bekannteste von ihnen war General Jovan Divjak. Er wurde am 11. März 2011 aufgrund eines serbischen Haftbefehls (der Sonderstaatsanwaltschaft für Kriegsverbrechen) in Wien festgenommen. Ein Auslieferungsantrag wurde aber abgelehnt, und so war Divjak wieder ein freier Mann. Das Haager UN-Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien hatte zu diesem Zeitpunkt die Ermittlungen gegen ihn bereits eingestellt. Einigen serbischen Akteuren der Belagerung Sarajewos wurde dort indes der Prozess gemacht. Die Hauptverantwortlichen, Radovan Karadzic und sein Armeechef Ratko Mladic, warten noch auf ihr Urteil.
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