Das erste Sendungsdrittel ist hart für Annalena Baerbock. Die designierte Kanzlerkandidatin der Grünen windet sich, greift wiederholt zum Wasserglas, muss sich erklären. Eigentlich soll es bei Anne Will um die frisch verabschiedete "Bundes-Notbremse" gehen. Doch zunächst grillt die Moderatorin die Grünen-Vorsitzende mit Fragen zu ihrer Kandidatur. Ist sie es nur geworden, weil sie eine Frau ist? Ist die mangelnde Regierungserfahrung nicht doch ein enormes Defizit? Diese Fragen sind erwartbar und nicht neu. Doch Baerbock hat sichtlich Mühe, gegen die Moderatorin anzureden. Am Ende bleibt sie souverän, doch dazu später.
Zunächst zum Oberthema der Sendung: Ist die "Bundes-Notbremse" ein Durchbruch oder ein "Tiefpunkt" in der Pandemiepolitik? Spoiler: Für die Gäste ist sie etwas dazwischen: gut gemeint, aber schlecht gemacht. Dass dieses Urteil fällt, ist angesichts der Konstellation der Talk-Runde nicht verwunderlich: Es ist an diesem Sonntag keine Person geladen, die die Bundesregierung repräsentiert.
Als Vertreter der Wirtschaft sieht Gabriel Felbermayr zwar die Notwendigkeit dieses Beschlusses, aber: "Mir fehlt irgendwie der große Wurf", so der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. "Jetzt hat man ein paar Dinge nachgeschärft und vereinheitlicht, das ist okay." Aber das reiche bei weitem nicht, "um erstens die Zahlen runterzubringen und zweitens Perspektive zu geben."
Ausgangssperre als Fall für das Verfassungsgericht
In ihrem wöchentlichen Video-Podcast hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Samstag über die "Notbremse" gesagt: "So sehr man sich wünschen würde, es gäbe weniger belastende Wege, die dritte Welle zu brechen und umzukehren - es gibt sie nicht." Das sieht FDP-Urgestein Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vermutlich anders. Sie ist neben Baerbock als mahnende Stimme der Opposition zugeschaltet.
Welchen alternativen Plan ihre Partei gegen die hohen Fallzahlen hat, wird Leutheusser-Schnarrenberger nicht gefragt. Die derzeitige Richterin am bayerischen Verfassungsgericht und frühere Bundesjustizministerin erläutert dafür, was sie gerade an dem Instrument der Ausgangssperre stört. Diese gilt zwischen 22 und 5 Uhr in den Landkreisen und kreisfreien Städten, die stabil eine Sieben-Tage-Inzidenz von 100 und mehr vorweisen.
Die Wirkung dieser Maßnahme sei höchstens moderat bis gering, so die Liberale. "Es geht um massive Beschränkungen von Freiheitsrechten." Da müsse der Gesetzgeber nach nunmehr über einem Jahr Pandemie genauer hinschauen und differenzieren. "Es bringt doch ein Gesetz nichts, wenn das Bundesverfassungsgericht dann an ganz vielen Stellen jetzt sehr genau hinschauen muss und möglicherweise korrigieren muss. Dann hat man leider keinen Mehrwert erreicht."
Schlagabtausch der Wissenschaftler
Physikerin Viola Priesemann rechtfertigt dagegen den Beitrag von Ausgangssperren in einem Gesamtpaket an Maßnahmen, um die Fallzahlen zu drücken. Die Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut bemängelt allerdings die fehlende langfristige Strategie und entsprechende Kommunikation der Regierung. Seit dem "Lockdown light" im November 2020 werde versucht, die Situation in den Griff zu bekommen. Aber sind niedrige Fallzahlen dabei wirklich das Ziel? Priesemann stellt das angesichts der seit Monaten angespannten Infektionslage infrage.
Mit dem Demokratieforscher Wolfgang Merkel, der ebenfalls im Studio sitzt, gerät sie in einen Schlagabtausch über die Bedeutung der Wissenschaft und das Dilemma der Politik, die laut Merkel mehrere Interessen - etwa aus der Wirtschaft - in den Blick nehmen muss: "Die Politik ist mehr als die Umsetzung eines Ziels, wie zum Beispiel die Infektionszahlen runterzubringen. Das ist total wichtig, aber es gibt eben eine ganze Menge andere Ziele." Priesemann entgegnet: "Die niedrigen Inzidenzen haben für alle Vorteile, in allen Bereichen. Und alles andere ist eben ein Durchwurschteln."
Wie die anderen Talk-Gäste auch, plädiert der Politikwissenschaftler Merkel dafür, Geimpften Freiheitsrechte zurückzugeben. Doch auch hier widerspricht Priesemann und schränkt ein: Eine Impfung biete keinen 100-prozentigen Schutz davor, dass die betreffende Person nicht doch Sars-CoV-2 an andere weitergibt. Deswegen müssten auch die Geimpften weiter getestet werden.
"Ich bin sehr lernfähig"
Und Baerbock? Der fehlen in dem "Notbremsen"-Gesetz vor allem Verpflichtungen im Arbeitsbereich. Die Ausgangssperre nennt sie Ultima Ratio. Die Verhältnismäßigkeit sei dann schwierig zu rechtfertigen, wenn eben Betriebe aus der Verantwortung genommen würden und das Homeoffice und Testen nicht konsequent verpflichtend sei. Regionenspezifisch machten Beschränkungen der Bewegungsfreiheit vielleicht Sinn, aber nicht als zentrale Maßnahme des Bundes, so die Grüne.
Zurück zu den ersten 20 Minuten der Sendung: Moderatorin Will schafft es nicht, Baerbock aus der Fassung zu bringen. Das Wortgefecht ist hart in der Sache, teilweise unangenehm anzuschauen, aber charmant und respektvoll im Ton. Es gibt keine Nein-Doch-Abfolgen wie zwischen Markus Lanz und Armin Laschet. Baerbock sagt, sie habe sich persönlich geprüft und überlegt, was eine Kanzlerin benötige. Aus ihrer Sicht: "Durchsetzungsfähigkeit, Entschlossenheit, aber eben auch Empathie, Menschlichkeit, ein Blick für die unterschiedlichen Menschen in diesem Land und vor allen Dingen einen klaren Kompass, wie wir dieses Land erneuern. Und all das bringe ich mit."
Ihre eigenen Hintergrund - eine Frau ohne Regierungserfahrung - könne sie nicht ändern. Aber: "Ich bin sehr lernfähig." Im Gegensatz zu ihren Kontrahenten um das Kanzleramt, Olaf Scholz und Armin Laschet, sagt sie nicht klipp und klar, sie werde Kanzlerin. Will hakt nach: Fehlt ihr da etwa der Glauben an sich selbst? Die Wählerinnen und Wähler entscheiden, entgegnet Baerbock. "Ich habe großen Respekt und Demut." Das unterscheide sie vielleicht von ihren männlichen Mitbewerbern.
Quelle: ntv.de
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