Und wer sich am Umerziehungsprogramm beteiligte, hatte nicht immer die lautersten Motive. Günter Grass lässt seinen Blechtrommler Oskar Matzerath lästern: "Ich wurde Stammgast im British Center (sic!), diskutierte mit Katholiken und Protestanten die Kollektivschuld, fühlte mich mit all denen schuldig, die da dachten: machen wir es jetzt ab, dann haben wir es hinter uns und brauchen später, wenn es wieder aufwärts geht, kein schlechtes Gewissen mehr zu haben."
Die Kollektivanstrengung der "Reeducation" und die Frage, ob sie gelungen oder gescheitert sei, ist heute wieder aktuell, da möglicherweise Millionen Menschen aus muslimischen Ländern deutsche Mitbürger werden. Mit "Willkommensklassen" und Sprachkursen wird es nicht getan sein. Es geht heute allerdings nicht um die "Entgiftung" von Verbrechern, Mitläufern und Verführten, wie die Franzosen den Prozess nannten, sondern um die Integration von Menschen, die vor Verbrechern geflohen sind. Und doch wird einiges Toxische zu neutralisieren sein.
Was also kann man aus der Erziehungsdiktatur der West-Alliierten lernen?
Sie war, dies vorweg, ein optimistisches Unterfangen, getragen vom Glauben an die Lernfähigkeit von Menschen. Einen Glauben, den nicht alle teilten. In den USA kursierten Pläne, aus Deutschland ein Agrarland zu machen, um den offensichtlich unheilbar ins Militärische vernarrten Deutschen ein für alle Male das Kriegführen zu verunmöglichen.
Thomas Mann wiederum befürwortete die Liquidierung von etwa einer Million Nazis, darunter auch Kulturfunktionäre und Dichter, und die "gelenkte Auswanderung großen Stils aus Deutschland". Etwa 20 Millionen Deutsche seien in Europa umzuverteilen; denn "ein so sonderbares Volk sollte nicht so zahlreich sein." Allein Frankreich, so der Schriftsteller, sei bereit, "Millionen von Deutschen zu resorbieren".
Dazu kam es nicht.
Anders als 1918 hatten die Deutschen bis zuletzt gekämpft. Dennoch gab es keinen Widerstand gegen die Besatzung, keine Sabotage, keine aus fanatisierten Hitlerjungen rekrutierten "Werwölfe". Die Deutschen waren im wahrsten Wortsinn demoralisiert.
Die Sieger mussten gleichzeitig die Nazis ausfindig machen und bestrafen und die Deutschen durch Aufklärung über die NS-Verbrechen, Schaffung demokratischer Institutionen und Beteiligung der Bürger an der "grass roots democracy" sowie die Neuordnung von Schule, Presse und Rundfunk umerziehen.
Es begann mit einem Fragebogen. Jeder Deutsche über 18 Jahre sollte 131 Fragen zu Herkunft, Ausbildung, Mitgliedschaft in NS-Organisationen und Tätigkeit während der "zwölf Jahre" ausfüllen. Aufgrund der ausgefüllten Fragebögen wurden die Deutschen eingeteilt in fünf Kategorien: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete.
Persilschein für Nazi-Funktionäre
Dafür wurden Hunderte Spruchkammern eingerichtet, die mit deutschen Antifaschisten besetzt und ab 1946 von deutschen "Befreiungsministerien" kontrolliert wurden. Die Hauptschuldigen wurden alliierten Gerichten überantwortet. Gegen die anderen konnten die Spruchkammern Gefängnis- und Geldstrafen, Entzug des Wahlrechts und Berufsverbote für Mitglieder des öffentlichen Dienstes verhängen.
Obwohl nach Schätzungen der Spruchkammern etwa 30 Prozent der Deutschen als mehr oder weniger stark belastet zu gelten hatten, erlitten nur etwa ein Prozent der Überprüften empfindliche Strafen oder dauerhafte Nachteile. Wer sich als "Mitläufer" herausreden konnte, musste kaum Nachteile erleiden.
Mitglieder von NS-Organisationen bescheinigten einander gegenseitig, sie hätten lediglich aus Opportunismus mitgemacht. So galten die Spruchkammern im Volksmund bald als "Mitläuferfabriken", wo selbst höhergestellte Funktionäre einen "Persilschein" abholen konnten.
Kaum war die Maschinerie der Säuberung eingerichtet, wurde schon die Wiedereingliederung der "Entnazifizierungsopfer" vorangetrieben, zum Beispiel durch Amnestien – im August 1946 für "Jugendliche" bis 27 Jahren, zu Weihnachten desselben Jahres für Kriegsgeschädigte und "sozial Schwache". Der Paragraf 131 des Grundgesetzes schließlich machte die meisten Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst rückgängig. Für "131er" waren 20 Prozent der Planstellen offen zu halten.
All das hinderte die Deutschen nicht, Besatzung und Entnazifizierung als Zumutung zu empfinden. Einer der größten literarischen Erfolge der Nachkriegszeit war Ernst von Salomons romanhafte Autobiografie "Der Fragebogen". Darin, so der Rowohlt-Verlag im Klappentext der Taschenbuchausgabe noch 1985, habe der Autor "die Absurdität einer bürokratisch-kollektiven Maßnahme" entlarvt, "die den Menschen zu kategorisieren suchte."
Der Roman zeige damit "unser aller Leben zwischen den historischen Kräften und Mächten, denen es ausgeliefert ist." Dass von Salomon keineswegs irgendwelchen Kräften und Mächten "ausgeliefert", sondern aus freien Stücken in der Weimarer Republik Rechtsterrorist, im Dritten Reich Parteimitglied gewesen war, verschwieg der Verlag vornehm.
Und doch wurden die Westdeutschen – widerwillig zwar, doch unaufhaltsam – Teil des Westens. Bereits 1952 überholte Konrad Adenauer bei der jährlich gestellten Frage "Wer ist der größte deutsche Staatsmann?" den bis dahin nach Otto von Bismarck am häufigsten genannten Adolf Hitler. Hatten auf die Frage, ob "wir uns heute zur Gemeinschaft der westlichen Völker zählen können", 1951 nur acht Prozent mit "Ja" geantwortet, waren es 1959 schon 33 Prozent.
Das Urteil der Nachgeborenen über die Reeducation ist darum gnädiger als das der Zeitgenossen. Der Prozess der "Rezivilisierung der Deutschen" (Konrad Jarausch), ihrer "Zähmung durch Westbindung" (Edgar Wolfrum) ist gelungen. "Das eigentliche Wunder" der Nachkriegszeit war nicht das Wirtschaftswunder, behauptet der Historiker Wolfrum, geboren 1960, also fünf Jahre nach dem Tod des pessimistischen Bürgers Thomas Mann. "Das Wunder war, wie aus den ehemaligen Volksgenossen der NS-Diktatur demokratische Bürger wurden."
Lasst uns eine lehrende Demokratie sein
Was daraus für die heutige Situation und die Integration der Flüchtlinge zu lernen ist: vor allem wohl, dass wir mit ihnen mindestens so viel Geduld haben sollten, wie die westlichen Sieger – und wir selber – mit uns hatten; dass wir auf die zivilisierende Kraft der Demokratie und der Selbstverwaltung, der Schule und der Kultur – und der Arbeit – setzen sollten.
Vielleicht aber auch, dass wir den Anspruch, den die Sieger mit dem verhassten Fragebogen formulierten, auch erheben sollten. Mag sein, dass es unter den Zugewanderten so manchen Oskar Matzerath und Ernst von Salomon gibt; es ist dennoch gut, wenn sie wissen, welches Bekenntnis von ihnen verlangt wird. Die Bundesrepublik wurde, so Wolfrum, zu einer "lernenden Demokratie". Nun steht sie vor der Herausforderung, auch eine lehrende zu sein.
Quelle : welt.de
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