März 2014, spätnachmittags, kurz vor dem Feierabendverkehr und nach dem täglichen Platzregen an einer kleinen Kreuzung in Singapur: Der Herr im steif gebügelten Hemd wandert bedächtig zu mir herüber und klopft an mein Autofenster. Als ich die Scheibe senke, steckt er mir seinen Zeigefinger durch die Öffnung und schwenkt ihn vor meiner Nase hin und her, wie eine Schulmeisterkarikatur. "Sie sind über eine grüne Fußgängerampel gefahren, ohne zu bremsen!", ermahnt er mich mit bedrohlich sanfter Stimme. Meinen Einwand, der Übergang sei doch menschenleer und meine Abbiegeampel grün gewesen, wischt er streng beiseite: "Unser Gesetz schreibt es vor anzuhalten."
Als Ausländer wird man in Singapur, wo wir seit 2003 leben, häufig belehrt. Der brave Bürger hat sich eigens die Mühe gemacht, drei Fahrspuren zu überqueren, um mich auf mein Verfehlen hinzuweisen. Ich fühle mich wie ein gescholtenes Kind. Eine unangenehme Rolle, auch wenn ich mich im Recht weiß – und ein tägliches Phänomen. Man wird nicht integriert, man wird geduldet. Mal mehr, mal weniger.
Eher weniger an jenem Morgen, als ein Ferrari-Fahrer aufs Gas trat und auf mich und meine Kinder zuhielt, die es gewagt hatten, die Straße zu überqueren als er noch weit entfernt war. Als ich "Stopp!" schrie und mich in Todesangst vor meinen Nachwuchs warf, brüllte er: "Du Ausländerin sagst mir nicht, was ich tun soll!"
In chinesisch geprägten Gesellschaften wie Singapur regiert die Hierarchie von Geld und Macht. Der Mann im Ferrari steht in seinen Augen klar über mir: Er ist reicher, und er ist hier zu Hause. Deshalb kann er die Ausländerin mit ihren Kindern umfahren, die zum Bus hastet. Die fährt ja nicht einmal Auto.
Singapur braucht die Expats. Der kleine Stadtstaat ohne eigene Ressourcen würde ohne die über zwei Millionen Ausländer (mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung) nicht gedeihen. Vielleicht sind wir gerade deshalb nicht wirklich beliebt. Da mag man die Verkehrssprachen Chinesisch und Malay noch so fließend beherrschen oder mit fliegenden Essstäbchen flutschige Fischbälle aus Suppenschalen angeln können. Man mag die lokale Küche mit flammenden Chilischoten ohne Tränentsunami schlucken, den Text der Nationalhymne kennen und bei der Druckpunkt-Fußmassage nicht schreien. Und doch wird man immer Zugereiste bleiben.
Touristen sind prima, Haushaltshilfen, Bauarbeiter und andere Arbeitskräfte aus asiatischen Nachbarländern machen die Drecksarbeit und haben ganz offen kaum Rechte und keinerlei Privilegien. Für sie gelten nicht einmal die gängigen Verkehrsregeln: Während für jeden anderen im Auto selbst hinten Anschnallpflicht besteht und mit teuren Geldbußen eingefordert wird, hocken die Inder und Bangladescher ungeschützt auf den Ladeflächen der Kleinlaster, die sie zu den Baustellen der Stadt karren. Bremst der Wagen, kegeln sie haltlos durcheinander.
Fühlen sich Chinesen überlegen, wird es unangenehm
Wir "Westler" werden grundsätzlich mehr respektiert, weil wir hier mehr Geld ausgeben. Aber je drückender Singapurs eigene ökonomische und soziale Probleme werden, desto dünner wird der Firnis des herzlichen Willkommens. Und die pöbelnden "Go home!"-Ausbrüche nehmen zu.
In China, wo ich in den 90er-Jahren studierte und später arbeitete, wird jedem Ausländer in einer Hierarchie der Weltregionen ein Stempel aufgedrückt und man behandelt ihn entsprechend. Stammt man aus einem wohlhabenden Heimatland mit Einfluss, wird man hofiert, fühlen sich die Chinesen überlegen, wird der Umgang extrem abfällig.
Tief im Nordosten, in Shenyang, lebten damals kaum Ausländer. Es gab einige Russen, die Haushaltskram aufkauften und in riesigen blau-weiß-roten Plastiktaschen in die Züge gen Wladiwostok schleppten. Und es gab eine Handvoll Amerikaner, die meisten offiziell Englischlehrer, inoffiziell missionarisch unterwegs. In jener grauen Industriestadt, wo die Luft nach altem Grillrost roch und die Eiswinter sich von Oktober bis April hinzogen, waren damals noch keine westlichen Unternehmen ansässig. Russland galt zu der Zeit unter Chinesen als Bettlerland, die USA als stinkreiche Superpower. Und so biederten sich die meisten bei den Amerikanern an, die Russen aber wurden verachtet.
Und je nachdem, für welche Gattung mich die Passanten hielten, waren sie zuvorkommend oder grob und distanzlos. Wie oft sie mir in die roten Haare griffen, aus massiver Neugier und mangelndem Respekt, kann ich nicht zählen. Am schlimmsten traf es die Afrikaner. Chinesen können extrem rassistisch sein. Sie schnüffelten angeekelt in der Luft herum oder rieben den dunkelhäutigen Austauschstudenten mit spitzem Finger über die Haut, um zu prüfen, ob der "Dreck" abfärbte.
Einzig die jungen Leute suchten gezielt den Kontakt zu den Ausländern. "Kann ich von dir Englisch lernen?", raunten sie uns in der Mensa zu, oder – so kurz nach dem Tian`anmen-Massaker noch riskanter: "Kannst Du mir erklären, was Demokratie ist?" Die meisten anderen beäugten uns misstrauisch, aber verpassten keine Gelegenheit, uns nach Strich und Faden über den Tisch zu ziehen.
All das hat sich geändert. China ist heute weltoffen und viel selbstbewusster. Das zeigt sich auch in seinem Umgang mit uns Ausländern. Keine Spur mehr von Unterwürfigkeit, im Gegenteil: Heute leben die meisten Chinesen getreu der uralten Legende von der Erschaffung der Menschheit, die mir einst ein Professor nur halb ironisch erzählte: Die Götter formten die ersten Menschen aus Teig und schoben sie in den Backofen. Doch sie holten sie zu früh wieder heraus. So blieben die Gestalten bleich und roh: die Kaukasier. Beim zweiten Versuch ließen sie die Teigformen allzu lange in der Hitze, sodass sie verbrannten – das waren die Afrikaner. Endlich, beim dritten Versuch, gelangen die Menschen perfekt: goldgelb und genau richtig, die Chinesen.
Wenn man als Fremdling in einem fremden Land lebt, dann bemüht man sich um Anpassung. Genau wie die Deutschen es von den Flüchtlingen erwarten. So verbarg ich in Afghanistan, wo ich nach dem 11. September 2001 und dem Beginn des Bundeswehreinsatzes mehrfach als Reporterin unterwegs war, immer meine Haare unter einem Schal. Alles andere wäre unpassend gewesen, meine "nackten" Haare ein Affront. Umgekehrt kommt die komplette Vermummung einer Frau in Burka für viele Deutsche fast einer Beleidigung gleich.
Oft musste ich meine anerzogenen Gewohnheiten und Höflichkeiten ganz bewusst verlernen und das Gegenteil von dem tun, was meine Mutter mir einst beigebracht hatte: In Asien ist es grob unhöflich, Älteren in die Augen zu schauen. In Westafrika ebenso. Man lässt in China bei Tisch etwas übrig, sonst gibt man den Gastgebern das Gefühl, sie hätten nicht genug aufgetischt. Man lobt die blasse Haut und früher gar die Leibesfülle von Bekannten. Ein herzliches "Du hast zugenommen" war damals nett gemeint. Auch das hat sich heute geändert, seit die Schönheitsideale global geworden sind und Speck um die Hüften nichts mehr mit Wohlstand zu tun hat – das heißt: wieder umlernen.
Deutsche Weihnachtslieder und chinesische Glücksfische
Man passt sich an und spielt mit. Man will, so gut es geht, mit dem Strom schwimmen, niemanden brüskieren. Und man bringt es den eigenen Kindern ebenso bei. Meine Tochter und mein Sohn, in Asien geboren, sollten trotzdem die deutsche Heimat kennen. Und so singe ich deutsche Kinderlieder mit ihnen, pflege die guten alten Weihnachtsbräuche und stelle an Nikolaus die Schuhe vor die Tür – auch wenn ich dann zwei Monate später beim chinesischen Neujahrsfest die Weidenkätzchen in die Vase drapiere, mit roten Glücksfischen für das neue Jahr schmücke und Orangen verschenke, weil die Wohlstand verheißen. Getreu dem Motto: Mach es in Rom wie die Römer.
Nicht alle denken und handeln so: In Thailand etwa, so klagt eine einheimische Freundin, benehmen sich die deutschen Langzeitsiedler häufig heftig daneben: Sie sind sehr früh am Tag sehr betrunken, kleiden sich nicht angemessen und belästigen Frauen. Sie "nutzen das System aus", klagt meine thailändische Bekannte – und sie klingt dabei ziemlich genauso wie ein durchschnittlicher deutscher Pegida-Anhänger, wenn er sich über Zuwanderer auslässt.
Mein sanftestes Eintauchen, das unkomplizierteste Mitschwimmen im Strom, gelang mir in Mali. Dort lebte ich als Studentin monatelang in einem staubigen Dorf mitten in der Sahelzone, um die Sprache Bambara zu lernen. Es gab weder Strom noch fließendes Wasser, und die allgegenwärtige Musik wehte aus batteriebetriebenen Transistorradios durch die pechschwarzen Nächte. Ausgerechnet dort in Westafrika, wo ich offensichtlich fremder und privilegierter nicht hätte sein können, ließen mich die Menschen ohne viel Federlesen an ihrem Alltag teilhaben.
Ich war die einzige Weiße dort in Mourdiah. Doch die Frauen lachten mir offen ins Gesicht, die Männer lieferten sich mit mir palavernde Streitdiskurse – und die Alten ignorierten mich entspannt. Ich war keine Sensation, kein Ärgernis, ich war einfach da. Mag sein, dass es dort in einem der ärmsten Länder der Welt einfach wichtigere Probleme gab als eine Fremde in ihrer Mitte. Oder vielleicht – nur so eine Idee – sind Ressentiments gegen Ausländer, sind Überlegenheitsgefühle wie Minderwertigkeitskomplexe auch einfach ein Luxus, den sich nicht alle auf der Welt leisten können.
Nach Jahrzehnten in der weiten Welt ziehen wir im Sommer nun nach Hannover – man darf gespannt sein, ob und wie dort die Integration gelingt.
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