Die fünf großen Risiken des “Merkel-Plans“

  04 April 2016    Gelesen: 705
Die fünf großen Risiken des “Merkel-Plans“
Heute beginnt die EU damit, Flüchtlinge in die Türkei abzuschieben. Die Europäer hoffen, dass damit die Zahl der Migranten deutlich sinkt. Eine Rechnung mit vielen Risiken.
Der EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei – jetzt soll alles ganz schnell gehen. Montag, 4. April, 10.00 Uhr Ortszeit, Insel Lesbos. Griechische Polizisten und EU-Grenzschützer bringen die ersten Flüchtlinge mit Bussen aus dem Aufnahmelager Moria in die Inselhauptstadt Mytilini. Im Hafen werden die Flüchtlinge sofort auf das türkische Touristenboot "Nazli Jale" gebracht.

Die Sicherheitsvorschriften sind streng, es soll niemand fliehen: Jeder Migrant wird von einem Polizisten bewacht. Das Schiff fährt in den türkischen Hafen von Dikili, 28 Kilometer entfernt. 750 Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Pakistan oder dem Irak sollen bis Mittwoch auf diese Weise von europäischem Boden wieder in die Türkei abgeschoben werden, am Montag allein 200. Sie gehören zu jenen etwa 6000 Flüchtlingen, die seit dem 20. März, also dem Inkrafttreten des neuen Flüchtlingspakts, auf den Inseln der Ostägäis gelandet sind.

Alle Flüchtlinge, die nicht in Griechenland Asyl beantragen oder deren Antrag unzulässig ist, werden zurückgeschickt – das sind fast 100 Prozent. Für die etwa 47.000 Flüchtlinge, die sich bereits vor dem Stichtag auf griechischem Boden befanden, gilt das nicht – sie sollen von Griechenland aus direkt in EU-Länder umverteilt werden.

Ein Kernpunkt der neuen Vereinbarung: Für jeden abgeschobenen Syrer wird ein Syrer, der sich noch in der Türkei befindet, legal in die EU aufgenommen. Ziel: Für Bürgerkriegsflüchtlinge soll es unattraktiv werden, sich mithilfe von Schleppern auf den Weg in die EU zu machen. Denn wer aus Griechenland wieder abgeschoben wird, hat keine Chance mehr, auf legalem Weg nach Europa zu kommen.

Mit dieser Strategie der Abschreckung will die EU die Flüchtlingszahlen schnell runterdrücken. Die Europäer sind zunächst bereit, der Türkei im Rahmen eines Tauschhandels, der sogenannten Eins-zu-eins-Lösung, 72.000 Syrer auf legalem Weg abzunehmen. Die Hoffnung ist aber, dass diese Zahl nicht erreicht wird, weil Migranten frühzeitig erkennen, dass eine Flucht nach Europa keinen Sinn mehr hat.

Deutschland wäre bereit, 15.100 Syrer direkt aus der Türkei aufzunehmen. Am Montag sollen bereits die ersten 40 Syrer – vornehmlich Familien mit Kindern – mit zwei Linienmaschinen auf dem Flughafen Hannover eintreffen. Neben Deutschland wollen auch die Niederlande, Frankreich, Finnland und Portugal syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen.

Der neue Flüchtlingspakt mit der Türkei wurde weitgehend von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker entworfen. Merkel setzte die Pläne dann gegen massive Bedenken vieler EU-Mitgliedsländer in Brüssel durch. Der "Merkel-Plan" birgt viele Risiken, ob er klappt, ist völlig offen. Nach Ansicht von Beobachtern in Brüssel kann er zum Fiasko für die deutsche Kanzlerin werden. Dies sind die größten Risiken:

Risiko 1: Die Flüchtlingszahlen bleiben hoch

Im Gegenzug für die Aufnahme von Flüchtlingen hat die EU dem umstrittenen türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zahlreiche Versprechen gemacht: mindestens sechs Milliarden Euro Hilfszahlungen, beschleunigte Visumliberalisierung und schnellere Beitrittsverhandlungen. Die umfangreichen Zugeständnisse sind aber keine Erfolgsgarantie. Es gibt mehrere Gründe, warum der Flüchtlingsstrom nach Europa trotz Turbo-Abschiebungen in die Türkei unvermindert anhalten könnte. Erstens: Die türkischen Behörden vor Ort spielen nicht richtig mit und machen weiterhin lukrative Geschäfte mit den Schleppern.

Zweitens: Die Flüchtlinge lassen sich von einer Abschiebung nicht abhalten und versuchen immer wieder von Neuem, nach Griechenland zu kommen – die Strecke ist kurz. Drittens: Ein Teil der Flüchtlinge lässt sich vom neuen Flüchtlingspakt zwar abschrecken, man weicht aber umgehend auf andere Fluchtrouten aus und versucht, über Libyen, Albanien oder Bulgarien in die EU zu gelangen. In Sizilien sind im März bereits doppelt so viele Asylbewerber angekommen wie im Vormonat. In Libyen stehen offenbar rund 800.000 Menschen zur Flucht bereit. Die albanische Mafia wiederum hat laut Medienberichten Vorsorge getroffen und Millionen Euro in neue Schnellboote investiert.

Risiko 2: Die Lastenverteilung ist unfair

Es ist völlig unklar, wie viele Länder bereit sind, der Türkei Flüchtlinge abzunehmen. Sollten die Flüchtlingszahlen tatsächlich zurückgehen, will die EU Ankara entlasten und aus dem Bosporusland künftig weitere Flüchtlingskontingente im sechsstelligen Bereich übernehmen. Gleichzeitig müssen aber auch noch Flüchtlinge aus Italien und Griechenland auf alle EU-Länder umverteilt werden. Bisher Fehlanzeige: Seit September 2015 wurden statt 65.000 erst 600 Flüchtlinge aus Griechenland neu verteilt. Folge: Die Gefahr ist sehr groß, dass auch künftig einige wenige Länder, darunter Deutschland, fast alle Flüchtlinge aufnehmen. Laut einer neuen Umfrage wollen zwei Drittel der Flüchtlinge in Griechenland ohnehin nach Deutschland.

Risiko 3: Bei Asylverfahren und Rückführungen gibt es Chaos

Bisher dauern Asylverfahren in Europa viele Monate, jetzt soll innerhalb von zwei Wochen entschieden und abgeschoben werden. Dazu fehlen aber ausreichend griechische Asylrichter, europäische Asylexperten und Polizisten, die für alle Seiten Sicherheit garantieren und die Abschiebungen ordnungsgemäß überwachen. Dabei könnten Pannen am Anfang den gesamten Plan gefährden und zu neuem Streit zwischen der EU und der Türkei führen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisieren zudem die Schnellverfahren und betonen, die Türkei sei kein sicheres Drittland. Außerdem würde Ankara Flüchtlinge unter Zwang in Kriegsgebiete zurückschicken, was die Regierung aber zurückweist. Die Vereinten Nationen (UN) monieren, die Registrierzentren für Flüchtlinge in Griechenland würden sich jetzt zu "Haftzentren" entwickeln.

Risiko 4: Es gibt Widerstand gegen Abschiebungen

Ausschreitungen und Gegenwehr der Flüchtlinge sind möglich. Auf der Insel Chios sind bereits am Wochenende 800 Flüchtlinge aus einem Lager ausgebrochen, sie zerschnitten den Maschendrahtzaun. Laut dpa liegen die Nerven bei vielen Flüchtlingen blank. "Unsere Angst ist, wie man diese Menschen aus den Lagern holt", sagte ein griechischer Offizier der Küstenwache. Sollte es tatsächlich zu anhaltendem Widerstand gegen die Rückführungen in die Türkei kommen, dürfte der Druck auf Merkel & Co. erheblich steigen: Die UN werden ihre Kritik verstärken und hässliche Fernsehbilder um die Welt gehen.

Risiko 5: Die Türkei ist ein Unsicherheitsfaktor

Nach inoffiziellen Angaben leben in der Türkei statt 2,7 Millionen bereits heute 3,5 Millionen Flüchtlinge. Aber wie viele neue Flüchtlinge kann die Türkei als Auffangbecken für die EU überhaupt noch verkraften? Wird sich Erdogan auch dann noch an die Abmachungen halten, wenn kriegerische Entwicklungen in Syrien oder Afghanistan dem Land Hunderttausende neue Flüchtlinge bringen? In der Hafenstadt Dikili wird bereits heftig gegen den EU-Flüchtlingspakt protestiert.

Kritisch wird der neue Flüchtlingspakt auch in Moskau gesehen. Der russische EU-Botschafter Wladimir Tschischow sagte der "Welt": "Was wir, ebenso wie die Vereinten Nationen und der Europarat auch, erwarten, ist, dass alle Maßnahmen, die von der EU und der Türkei durchgeführt werden, in völligem Einklang mit dem internationalen Recht stehen." Es sei unentschuldbar, wenn von "bewährten Normen zur Aufnahme und zum Schutz von Migranten und Asylsuchenden" abgewichen würde, warnte Tschischow.

Schließlich habe es auch Russland geschafft, nahezu zwei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen, ohne dass es Kritik von den Vereinten Nationen oder vom Europarat gegeben hätte. "Ich möchte unterstreichen, dass die einzige gangbare Lösung für die Flüchtlingskrise die Stabilisierung Syriens, Libyens, des Irak und Afghanistans ist." Die sei eine große Aufgabe, bei der auch politische Fehler einiger westlicher Staaten korrigiert werden müssten. "Aber es gibt keine Alternative dazu", sagt der einflussreiche EU-Botschafter.

Tschischow betonte, Moskau wünsche der Europäischen Union, dass sie die Flüchtlingskrise schnell unter Kontrolle bringt. Er machte aber auch klar: "Alle Versuche, Flüchtlinge als politische Verhandlungsmasse zu benutzen, um den eigenen Ansatz zur Lösung der Syrien-Krise anderen aufzuzwingen und irgendwelche Zugeständnisse in den bilateralen Beziehungen zu erpressen, sind vollkommen unzulässig."

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