Merkel rief an, Putins Worte ernst zu nehmen

  28 September 2022    Gelesen: 514
  Merkel rief an, Putins Worte ernst zu nehmen

Seit Angela Merkel als Bundeskanzlerin aus dem Amt geschieden ist, wurde es einigermaßen ruhig um die Politikerin. Zur ersten Veranstaltung der neu eingerichteten Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung erinnert sie sich an ihren Lehrmeister. Zudem teilt sie Einschätzungen zu Wladimir Putin und dem Krieg in der Ukraine.

Als Angela Merkel noch Kanzlerin war, lag oft eine heikle Anspannung über Terminen, bei denen es um ihren Vorvorgänger ging: Helmut Kohl. Zu beschädigt war das Verhältnis, seitdem sie 1999 als Generalsekretärin ihre Partei aufgefordert hatte, sich wegen der CDU-Spendenaffäre von Kohl zu lösen.

Am Dienstagabend spricht Merkel, inzwischen außer Diensten, in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt – und da erscheint vieles leichter. Es ist die erste Veranstaltung der 2021 eingerichteten Kanzlerstiftung des Bundes für den 2017 gestorbenen Kohl, die auch noch ein alter Streit verfolgt. Merkel erinnert sich persönlich wie selten an Kohl. Und formuliert nach dessen Prinzipien auch Lehren in Zeiten des Krieges.

Merkel beginnt mit ihrem „Kennenlerngespräch“ mit Kohl während des Wahlkampfes zum ersten gesamtdeutschen Bundestag im Herbst 1990, als ihr Politikerleben überhaupt erst begann. „Für mich war nahezu alles neu, ich musste unendlich viel lernen, und so wurde ich zu einer neugierigen Schülerin von Helmut Kohl.“ Sie habe sich akribisch auf eine Reihe möglicher politischer Fragestellungen vorbereitet, doch bei dem Gespräch im Bonner Kanzleramt habe Kohl dann im Kern nur eine Frage an sie gehabt: „Wie verstehst Du Dich mit anderen Frauen? Er duzte ja andere gerne einfach so“, berichtet Merkel.

Da habe sie verdutzt von Freundinnen erzählt und ihrer Arbeitsgruppe in der Akademie der Wissenschaften in der DDR, in der außer der Sekretärin nur Männer gewesen seien. „Und dass ich mit anderen Frauen genauso wenige und genauso viele Probleme und Gemeinsamkeiten hätte wie mit Männern.“ Kohl habe diese Auskunft augenscheinlich genügt, das Gespräch sei dann schnell zu Ende gewesen. Und: „Offensichtlich hatte es ihn bestärkt, mich beim Bundespräsidenten als zukünftige Bundesministerin für Frauen und Jugend zur Ernennung vorzuschlagen.“

Das zeige, dass es Kohl wesentlich um menschliche und charakterliche Eigenschaften gegangen sei. „Er unterschied Persönlichkeiten immer nach der Frage, ob sie nur intelligent seien oder zusätzlich auch noch klug. Und natürlich gab es in seiner Bewertung auch Menschen, die er weder für intelligent noch für klug hielt“, sagt Merkel. Kohl sei immer neugierig auf Menschen gewesen, habe sich bei Krankheiten persönlich gekümmert – wie bei einem Besuch in der Berliner Charité, als sie sich 1992 ein Bein gebrochen hatte. Und Kohl habe versucht, eine Verbundenheit zum normalen Leben zu behalten. „Wer den aktuellen Milchpreis nicht kannte, galt in seinen Augen als abgehoben.“

Eine zweite Lehre für sie und ihren weiteren Weg lasse sich in einem inzwischen legendären Satz Kohls zusammenfassen, berichtet Merkel: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Soll heißen, um Ziele durchzusetzen, sei ein Gespür für das richtige Timing entscheidend. „Nicht zu spät, aber – das wird manchmal auch zu gering geschätzt – auch nicht zu früh zu entscheiden, darauf kommt es an.“ Kohl habe gewusst, dass auch Umwege nötig seien, das Ziel aber nie vergessen.

Als Beispiel nennt Merkel Kohls Tischrede beim Besuch von DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker 1987 in Bonn, die „eine Sternstunde politischer Staatskunst“ gewesen sei: menschlich nicht verletzend, aber unmissverständlich in der Aussage - dem prinzipiellen Festhalten am Ziel der deutschen Einheit im Einverständnis mit den Nachbarn. Sie habe es im Fernsehen gesehen und erinnere sich „mit Gänsehaut“ daran, sagt Merkel. Zwei Jahre später habe die Lösung der Frage dann auf der Tagesordnung der Geschichte gestanden, und Kohl „vertändelte diese glückliche Stunde nicht“. Entscheidend sei, was hinten rauskomme.

„Angesichts des heutigen Krieges Russlands gegen die Ukraine können wir uns gar nicht glücklich genug schätzen, welch unglaubliche Konstellation der Weltgeschichte uns 1989/90 diese Entwicklung ermöglichte.“

„Angesichts des heutigen Krieges Russlands gegen die Ukraine können wir uns gar nicht glücklich genug schätzen, welch unglaubliche Konstellation der Weltgeschichte uns 1989/90 diese Entwicklung ermöglichte“, hält Merkel fest. Und kommt dann auf die große Krise zu sprechen, die jetzt ihren Nachfolger Olaf Scholz (SPD) fordert.

Sie denke, Kohl würde heute „alles daran setzen, die Souveränität und die Integrität der Ukraine zu schützen und wiederherzustellen“, sagt Merkel. Zugleich habe er in derartigen Fragen von Krieg und Frieden nie „den Tag danach“ aus dem Blick verloren. Auf heute übertragen würde Kohl „parallel immer auch das im Moment so Undenkbare, schier Unvorstellbare mitdenken - nämlich wie so etwas wie Beziehungen zu und mit Russland wieder entwickelt werden können“, sagt Merkel. Und beides natürlich niemals in einem deutschen Alleingang.

Merkel greift eine frühere Interview-Frage auf, was für ein Mensch Russlands Präsident Wladimir Putin sei. „Man sollte seine Worte ernst nehmen“, habe sie gesagt. Angesichts der jüngsten Entwicklung wolle sie das ergänzen: „Worte ernst zu nehmen, sie nicht von vornherein damit abzutun, sie seien nur ein Bluff, sondern sich ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen, das ist beileibe kein Zeichen von Schwäche oder Beschwichtigung, sondern ein Ausweis politischer Klugheit - einer Klugheit, die dazu beiträgt, Handlungsspielräume zu erhalten oder, mindestens so wichtig, sogar neue zu erarbeiten.“

Abseits der Veranstaltung in Berlin geht ein Streit um die Stiftung weiter. Kohls Witwe, Maike Kohl-Richter, protestiert in einem neuen Schreiben an den Kuratoriumsvorsitzenden Volker Kauder (CDU) erneut grundsätzlich gegen die staatliche Stiftung, die Kohls „postmortale Rechte“ verletze. Merkel bezeichnet es in ihrer Rede als „wirklich gut“, dass die Stiftung gegründet sei und die Arbeit aufnehmen könne. Sie wünscht noch „viel Erfolg und viele spannende Veranstaltungen“.

RND/dpa


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