Wenn Tote erzählen

  09 Oktober 2015    Gelesen: 643
Wenn Tote erzählen
Auf einem Waldgelände, tief in Tennessee, verwesen etwa 120 Leichen im Dienst der Wissenschaft. Forensiker forschen auf der "Body Farm", um Mordfälle lösen zu können.
Die Toten sind überall. Einige verrotten hier schon so lange, dass es schwerfällt zu unterscheiden, wo der Mensch aufhört und die Natur anfängt. Andere sind gerade mal eine Woche alt. Sie sehen aus wie Schlafende - nackt, auf dem Boden liegend, die Beine angewinkelt. Unter ein paar kargen Ästen ragt ein Arm hervor; die Haut nur noch braunes Leder, die Finger steif, die Kuppen schwarz. Nicht ein Gramm Fleisch ist noch an den Knochen. Im Dickicht, zwischen Heckenkirschen, ruht ein Schädel ohne Kiefer. Der Rest des Körpers liegt einige Meter entfernt. In der Luft hängt ein stechend-süßlicher Geruch. Er dringt tief in die Nase ein. Der Magen verkrampft sich sofort. Instinktiv wehrt sich der eigene Körper gegen den Geruch von Verwesung und Tod.

Mit dem Ziel, die Verwesung von Leichen zu erforschen

Dawnie Steadman wählt jeden ihrer Schritte auf dem schmalen Kiesweg zwischen den Leichen mit Bedacht. Die zierliche Frau mit dem großen Lachen trägt Gummihandschuhe und weiße Hygiene-Überzieher an den Füßen.

Sie sieht ein bisschen aus wie eine Chemielehrerin, wäre da nicht ein aufgenähter Totenkopf, der ihr dunkelblaues Poloshirt ziert. Es ist das Logo ihres Arbeitgebers. Die 48-Jährige bleibt vor einer aufgedunsenen Leiche stehen und breitet ihre Arme aus: „Willkommen auf der Body Farm.“

Die zweifache Mutter ist Professorin für Anthropologie. Seit mehr als vier Jahren leitet sie das Institut, das sich offiziell Forensisch-Anthropologisches Zentrum nennt. Es wurde 1981 mit dem Ziel gegründet, die Verwesung von Leichen zu erforschen und Mordfälle nachzustellen.

Was verrät ein verwesender Körper über einen Mord?

„Damit wir den Verwesungsprozess korrekt analysieren können, haben wir hier draußen für unsere Experimente 120 Tote ausgelegt“, erklärt Steadman. Jeden Tag fotografiert sie die Leichen, sammelt Haar-, Fuß- und Fingernägel, Blut- und Bodenproben, um jedes Detail zu dokumentieren. Wie viel Zeit liegt zwischen dem Fund einer Leiche und dem eigentlichen Todeszeitpunkt? Was verrät ein verwesender Körper über einen Mord? Das sind die Fragen, um die sich ihre Arbeit hier dreht.

Bekannt wurde die Body Farm durch Kriminalromane. Der britische Bestsellerautor Simon Beckett ist ein Bewunderer des Instituts. Sein Bestseller „Leichenblässe“ beschreibt die Arbeit des fiktiven forensischen Ermittlers David Hunter, der auf eben jenem Waldgelände in Knoxville arbeitet.

Professor Steadman lotst uns für einen Rundgang durch ein hügeliges Waldgebiet, das ungefähr so groß ist wie ein halbes Fußballfeld. Es ist komplett umzäunt, mit Nato-Draht vor Eindringlingen geschützt, und befindet sich direkt hinter dem Parkplatz der Uni-Klinik. „Neben unserem College-Football-Team und Quentin Tarantino ist unser Institut der Stolz von ganz Tennessee“, sagt Steadman. Tod und Verwesung sind hier Alltagsjob. „Man härtet einfach ab“, sagt sie, lächelt dabei und fügt hinzu: „Es fällt mir leicht, all das zu ertragen, weil ich weiß, wie wichtig unsere Arbeit ist.“

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Steadmans Interesse für die Kombination aus Mord, Verwesung, Tod und Forschung geht auf ein reales Verbrechen zurück - den Mordfall O. J. Simpson aus dem Jahr 1994. Der ehemalige amerikanische Football-Star wurde damals wegen Mordes an seiner Frau und einer weiteren Person angeklagt. Ein achtmonatiger Prozess, der live im Fernsehen übertragen wurde, folgte. „Zum ersten Mal wurde die Arbeit von Forensikern zum Hauptpunkt des Medieninteresses. Das fand ich total spannend.“

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