Nuit debout – frei übersetzt: Die Aufrechten der Nacht – nennt man sich. Man war anfangs selbst überrascht über sich, den Zulauf und das breite Medienecho. Doch dann schien das frühe Aus besiegelt. In der Nacht zum Montag räumten französische Polizisten den Platz und vertrieben auch die letzten Hartnäckigen. Ihre Demonstrationsgenehmigung war ausgelaufen. Am Morgen sprachen die Radiosender vom Ende der Bewegung, niemand kündigte ihre Fortsetzung an. Der Spuk einer besseren Welt schien erst einmal vorbei. Doch nur bis zum Abend. Plötzlich waren die Demonstranten wieder da, hatten sich eine neue Genehmigung besorgt. Und so ging der Spuk für eine bessere Welt wieder los.
Viele wären den Protest gern losgeworden: Eltern, Lehrer, Politiker, Unternehmer. Sie alle sind nämlich gemeint. "Ich will nicht mein Leben verlieren, indem ich zu den Gewinnern zähle", hatte die Grafikstudentin Chloé, zweites Semester, am vergangenen Samstag auf ihr weiß auf rot bemaltes Plakat geschrieben.
Damit traf sie haargenau die Stimmung auf dem großen Platz: Den meist jungen Leuten, unter ihnen viele Studenten, ging es nicht um konkrete Forderungen, sondern um den Ausdruck ihres Unwohlseins in der Gesellschaft. "Es gibt so viele Kämpfe im Alltag – ich glaube, wenn wir uns alle zusammentun, können wir etwas ändern", sagte Chloé. Als wollte sie sagen, sie wisse zwar nicht, was, aber irgendetwas müsse sich ändern. Und dafür war sie bereit, die ganze Nacht in Kälte und Regen zu stehen.
Der Pariser Politologe Yves Sintomer analysierte den Protest in der Tageszeitung Le Monde wie folgt: "Zuerst die Wut, Empörung, die Nase voll von einem blockierten System, von einer sich verschlechternden sozialen und wirtschaftlichen Lage, von Politikern, die nicht zuhören, von einer ungerechten Welt. Dann dem entgegen die Freude und der Wille zum Leben, etwas zu tun und sich zu engagieren – auch um der geläufigen Vorstellung eines wachsenden Individualismus und des Desinteresses der Jugend an der Politik entgegenzutreten." Was Sintomer da sagte, klang genauso kompliziert wie die Realität der Demonstranten auf dem Platz. Ihre Generalversammlungen waren durchaus kein Kinderspiel. Sie dauerten ewig. Nächtelang. Und hatten nicht einmal einen großen Vordenker.
Ideen für ähnliche Proteste kamen immer schon aus Frankreich. Für die Occupy-Wall-Street-Bewegung in den USA war der französische Philosoph Alain Badiou vielfältiger Ideengeber, den Empörten in Spanien diente der Aufsatz Empört euch! des französischen Diplomaten und Buchenwald-Überlebenden Stéphane Hessel als Ansporn. Badiou gilt als letzter großer Kapitalismus-Kritiker unter den Philosophen, Hessel beruft sich auf den französischen Nachkriegskonsens des Widerstands gegen die Nazis. Beide also große Moralisten – genauso wie Chloé und all die anderen jungen Leute heute auf dem Platz. Die meisten von ihnen sind aus gutem Hause. Sie sind nicht die Arbeitslosen von morgen, ganz im Gegenteil. Aber sie ärgern . Sie beklagen den Gesamtzustand. Sie wollen nicht pragmatisch sein.
"Schwer zu sagen, was dabei herauskommt"
Kein Wunder also, dass die große Politik lieber wegschaut: "Schwer zu wissen, was dabei herauskommt. Wir müssen abwarten, wie sich die Aktivisten im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfes verhalten", sagte Jean-Christophe Cambadélis, Chef der sozialistischen Regierungspartei in Paris. Er hatte nichts verstanden. Als gehe es den Demonstranten um Wahlen oder darum, Macht zu gewinnen. Da verlieren sie wie Chloé lieber.
Aufgeben wollen sie trotzdem nicht. Zwar sagen Beobachter, die französischen Aktionen hätten nicht den gleichen Elan wie vor fünf Jahren die Empörten in Spanien oder Occupy in den USA. Doch der Frust über das Leben im Allgemeinen und die Politik im Besonderen ist heute in Frankreich nicht nur unter Studenten weitverbreitet. Da sollte die Politik dann doch lieber aufpassen: Sonst spukt es bald im ganzen Land. Dann aber sicher nicht so besonnen, weltfremd und friedlich wie unter der Marianne.
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