Schon seit Wochen greifen die ukrainischen Streitkräfte russische Infrastruktur und seit Kurzem auch vermehrt Stellungen der Invasionstruppen an. Die Gegenoffensive läuft - daraus macht Kiew mittlerweile keinen Hehl mehr. Die Hoffnung vieler Menschen lautet: Die ukrainischen Truppen überrollen mit ihrer Infanterie und schwerem Gerät, das teilweise aus dem Westen geliefert wurde, die russischen Verteidigungspositionen und erobern sich Stück für Stück ihr Land zurück. In der Tat soll es zuletzt Geländegewinne gegeben haben - doch noch ist deren Ausmaß wohl überschaubar. Dass die aktuell laufende Gegenoffensive tatsächlich das Kriegsende herbeiführt, ist laut Einschätzung eines ukrainischen Offiziers nur so etwas wie Wunschdenken. Stattdessen warnt er vor überhöhten Erwartungen.
Man dürfe mit der Gegenoffensive keine Erwartungen an ein Kriegsende verbinden, sagte Oberstleutnant Sergij Osatschuk von den Grenztruppen dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Bis dahin ist es noch ein langer Weg." Der promovierte Historiker sagte, vergleiche man den Krieg in der Ukraine mit dem Ersten Weltkrieg, "dann befinden wir uns im Jahr 1916, nicht weiter". Danach dauerte der Erste Weltkrieg noch zwei weitere Jahre. Die großangelegte russische Invasion in der Ukraine läuft bereits seit einem Jahr und knapp vier Monaten.
Osatschuk ist in Tschassiw Jar eingesetzt, dem nächsten Ort vor der Stadt Bachmut, die die Russen im Mai nach monatelangen schweren Gefechten eroberten. Der Oberstleutnant sagte mit Blick auf die hohen Erwartungen im Westen an die Gegenoffensive: Ziel der Gegenoffensive sei es nicht, in verlustreichen Kämpfen Dorf für Dorf zu erobern. Stattdessen werde eine Umzingelung russischer Truppen angestrebt, damit diese sich aus Angst vor einer Einkesselung großflächig zurückzögen. Informationen zu Taktiken im Kriegsgeschehen sind allerdings mit Vorsicht zu beurteilen, da bei keiner der beiden Konfliktparteien ein Interesse besteht, der anderen Seite mit öffentlichen Aussagen zu helfen.
Russische Divisionen sollen gut ausgebildet sein
Auch der oft vorherrschenden Meinung, die russische Seite würde größtenteils mit "Schrott" in die Schlacht ziehen, setzte Osatschuk etwas entgegen: "Ich bin sehr realistisch, ich sehe, was uns gegenübersteht. Da sind russische Divisionen, die sind ebenfalls gut ausgebildet und ausgerüstet. Die haben moderne T-90-Panzer, nicht Museumsstücke vom Roten Platz." Bislang sei er optimistisch, was den Verlauf der Gegenoffensive in den ersten Tagen in seinem Abschnitt der etwa 1000 Kilometer langen Front angehe. "Jeden Tag rücken wir einige Hundert Meter bis zu einem Kilometer vor."
Die Russen hätten bei den Kämpfen um Bachmut zwischen 400 und 500 Tote zu beklagen gehabt, jetzt seien es immer noch 200 bis 300. "Aber nicht nur die Russen haben hohe Verluste, wir haben sie auch." Nähere Angaben zur Zahl der ukrainischen Gefallenen machte er aus Sicherheitsgründen nicht. Bachmut im Osten des Landes galt monatelang als zentrales Schlachtfeld des Krieges, obwohl die strategische Bedeutung der Stadt eher gering ist.
Mittlerweile soll sich das Zentrum der Kämpfe jedoch vom Osten in den Süden der Ukraine verlagert haben. Die aktivsten Kämpfe finden demnach nicht mehr im Donezker Gebiet rund um Bachmut statt, sondern auf den Straßen Richtung Berdjansk und Mariupol, wie der britische "Guardian" unter Berufung auf die ukrainische Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maliar berichtet. "Der Mittelpunkt der Kämpfe lag anfangs im Osten. Jetzt bewegen wir uns in den Süden", wird Maliar von der Zeitung zitiert. "Der Feind hat im Osten alle Kräfte zusammengezogen, um unsere Offensive zu stoppen. Im Süden ist er nicht sehr erfolgreich: Wir machen an allen Stellen Fortschritte."
Quelle: ntv.de, rog
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