Mit dem Taxi in die IS-Hochburg. Einfach nur zum Shoppen

  19 April 2016    Gelesen: 650
Mit dem Taxi in die IS-Hochburg. Einfach nur zum Shoppen
In der Hauptstadt der Terrormiliz Islamischer Staat gibt es täglich Bombardements und Hinrichtungen. Trotzdem fahren noch immer Menschen dorthin. Zum Einkaufen. Bei Mohammed kostet die Tour fünf Euro.
Jedes Mal, wenn Mohammed frühmorgens in seinem alten, weißen Hyundai-Kleinbus losfährt, bekommt seine Frau Herzklopfen. Wird ihr Mann heil nach Hause zu ihr und den vier Kindern zurückkommen? Oder ist es vielleicht ein Abschied für immer? Am liebsten würde Zeina ihn zurückrufen. Aber Mohammed hat keine andere Wahl, sagt er. Die Schule, wo er Mathematik unterrichtete, wurde zerstört. "Ich muss unbedingt Geld für die Familie verdienen, und meine Frau hat Krebs. Die Behandlung ist kostspielig."

Der 44-Jährige kniet auf dem mit Plastikmatten ausgelegten Wohnzimmerboden seines karg eingerichteten Häuschens und lächelt verkrampft. Die Verzweiflung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Heute ist er Taxifahrer. Das klingt nicht gefährlich. Aber Mohammed hat eine außergewöhnliche Route. Er steuert seinen koreanischen Minibus nach Rakka, in die syrische Hauptstadt der Terrormiliz Islamischer Staat (IS).

Im fünften Jahr hat sich der syrische Bürgerkrieg vor allem gegen den IS gewendet. Die syrische Armee, Rebellenfraktionen, die US-geführte Koalition und Russland bekämpfen die Terrormiliz. Andernorts im Land stabilisiert ein brüchiger Waffenstillstand die Lage wenigstens teilweise. Doch rund um die IS-Hochburg Rakka toben die Kämpfe besonders heftig. Das ändert nichts an der Brutalität der Terrormiliz im Innern der Stadt. Aber eine Ebene scheinbarer Normalität gibt es hier noch: Einkaufstourismus aus dem Umland.

Der Kleinbus wird auf verbotene Waren gefilzt

3000 syrische Pfund, umgerechnet etwa fünf Euro, kostet einer der zehn Plätze in Mohammeds Wagen. Seine Passagiere wollen in Rakka shoppen gehen und Verwandte besuchen. Andere kaufen Medikamente oder reisen nach Damaskus weiter, weil sie einen Facharzt brauchen. Mohammed fährt mindestens dreimal die Woche von der Busstation seines Heimatdorfs los. Es gehört zu den wenigen arabischen Siedlungen in dem mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiet an der türkischen Grenze. Mohammeds wirklicher Namen und sein Wohnortdürfen hier nicht stehen.

Der Fahrer möchte nicht auf dem Duar-Naim-Platz in Rakka enden. Dort exekutiert der IS angebliche Verräter. Das droht Mohammed, wenn herauskommt, dass er mit westlichen Journalisten gesprochen hat. Mohammed schenkt aus einer großen Aluminiumkanne Tee nach und sagt besorgt: "Wenn nur einer meiner Nachbarn mit den falschen Leuten spricht, kann alles aus sein." Der IS mag längst vertrieben sein, aber die Terrormiliz versetzt die Menschen noch immer in große Angst. In der Bevölkerung gibt es noch immer Sympathisanten, Spitzel und sogar Schläferzellen, die jederzeit zuschlagen können. Mohammeds Sorge ist begründet. Er will seinen Nachbarn erzählen, die Ausländer seien bei ihm gewesen, um seiner kranken Frau zu helfen.

Der erste Checkpoint der Dschihadisten liegt auf halber Strecke nach Rakka. Bevor der in Sicht kommt, müssen sich weibliche Passagiere entsprechend der Kleiderordnung der Extremisten umziehen: von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt, Gesichtsschleier, Handschuhe. Die maskierten IS-Kämpfer am Kontrollpunkt kennen Mohammed gut. Die Fahrgäste brauchen einen Passierschein mit Foto. Wer keinen Personalausweis besitzt, braucht zwei Bürgen. Der Kleinbus wird nach verbotenen Produkten gefilzt. "Eine Packung Zigaretten ist nicht schlimm", meint Mohammed. "Sie wird weggeworfen, aber es gibt keine Strafe." Als Fahrer muss er sich seine Passagiere vor dem Einsteigen genau ansehen. Denn beim IS steht er für sie gerade.

In Rakka sei das Leben eigentlich völlig normal, sagt Mohammed. Die Geschäfte seien offen, die Straßen voller Autos. Nur bei Luftangriffen ändert sich das schlagartig. Frauen und Kinder schreien dann hysterisch. Jeder versucht sich in Sicherheit zu bringen. Der Verkehr bricht zusammen. Allein IS-Kämpfer gehen mitten auf der Straße und rufen zum Himmel, dass sie ins Paradies eingehen wollen. "Als ich vor zwei Tagen in Rakka übernachtet habe, schlugen mitten in der Nacht 23 Raketen ein", erinnert sich Mohammed.

Die Explosionen waren unfassbar stark, Staubwolken, schreckliche Angst. Er steht auf und holt vom Regal neben einem uralten Billigfernseher den Metallsplitter einer Rakete. "Der war zuerst glühend heiß und rot", erklärt er. Die ganze Nacht habe er nicht schlafen können und als er am Tag danach beim Frühstück saß, seien plötzlich erneut Bomben gefallen. "Ohne einen Bissen bin ich aufgesprungen, zum Wagen gelaufen und nach Hause gefahren."

Für die Bewohner Rakkas müssen die täglichen Luftangriffe unerträglich sein. "Die meisten wollen, dass der IS so schnell wie möglich vertrieben wird." Nur ganz wenige unterstützten die Terroristen noch. Fast alle hätten die Gewaltherrschaft einfach satt. Darüber könnten die Bewohner aber nur in den eigenen vier Wänden mit guten Freunden oder Verwandten sprechen. "Sonst kann man niemandem trauen. Jeder könnte ein Verräter sein."

Raus aus Rakka? Das ist keine Option mehr

Für eine Flucht aus Rakka ist es mittlerweile zu spät. Seit mehr als einem Monat scheint der IS niemand mehr aus der Stadt zu lassen, der mit Sack und Pack weg will. Wer es trotzdem versuche und erwischt werde, müsse mit einer harten Strafe rechnen. Nur Einzelpersonen, die ihren Wohnsitz außerhalb von Rakka in den umliegenden Dörfer haben, sind als Pendler erlaubt. Tatsächlich sind in Tel Abiad an der türkischen Grenze seit über vier Wochen keine neuen Flüchtlingsfamilien mehr angekommen, wie die Behörden dort bestätigten. Von den einst gut eine Million Einwohnern in Rakka sind heute nach Schätzungen nur noch 300.000 übrig. Der IS hält sie als Geiseln und lebende Schutzschilde.

Mohammed besorgt in Rakka die Medikamente für seine krebskranke Frau. "Durch das Embargo kommt nichts mehr zu uns", sagt er. Die Türkei hält ihre Grenze zur syrischen Kurdenregion seit Monaten geschlossen. Im März machte auch die Regierung der autonomen Kurdenregion im Irak die Grenzübergänge dicht, nachdem die syrischen Kurden eine eigene Föderation ausgerufen hatten.

"Nach Rakka kommen Medikamente aus der Türkei, den Gebieten des Regimes und der Rebellen", sagt Mohammed. "Auch Gemüse, Obst, Elektroteile sind dort billiger als hier." Nur Brot sei bei den Dschihadisten wesentlich teurer. In der IS-Stadt kann man allerdings nicht in großen Mengen einkaufen. "Ich wollte Kartoffeln und Tomaten jeweils zu zehn Kilo mitnehmen, dazu noch Möbel und Autoersatzteile," berichtet der Taxifahrer. "Aber das wurde nicht zugelassen." Sollte seine Frau eine Operation brauchen, bliebe ihm nichts anderes übrig, als über Rakka irgendwie nach Damaskus zu gelangen. Ein Flugticket kann sich Mohammed, wie so viele andere, nicht leisten.

Rakka ist mittlerweile von nahezu allen militärischen Nachschubrouten abgeschnitten. Aber die Handelswege sowie der Personenverkehr funktionieren noch – und das über alle territorialen Grenzen der Konfliktparteien hinweg, egal, wie verfeindet sie untereinander auch sein mögen. "Geschäft ist eben Geschäft", sagt Mohammed schulterzuckend. Sein kleiner Sohn ist zu ihm gekrabbelt, und er nimmt ihn auf den Arm. Morgen früh wird er wieder in seinem alten, weißen Hyundai-Kleinbus losfahren. Und seine Frau wird vor Angst wieder Herzklopfen haben.

Quelle : welt.de

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