Brexit-Referendum: Liebesbomben auf London

  22 April 2016    Gelesen: 893
Brexit-Referendum: Liebesbomben auf London
Vor dem EU-Referendum macht sich Panik breit unter den Europafreunden in Großbritannien. Premier David Cameron hofft jetzt auf Hilfe von außen - zum Beispiel von Barack Obama.
Die Briten sind ein Volk, das Gefühlen skeptisch gegenübersteht. Aufwallungen und Ausbrüche sind dem gemeinen Engländer eher suspekt. Umso mutiger ist das Projekt, das gerade von europäischen Einwanderern in London gestartet wurde: "Hug a Brit" - umarme einen Briten. Die Initiatoren sind zwei Journalistinnen aus Österreich und Deutschland. Sie wollen der Insel zeigen, wie sehr Europa sie trotz allem schätzt. Wenn Vernunft nicht hilft, dann vielleicht Liebe?

Das große Lovebombing aus dem Ausland hat damit erst begonnen. Heute nachmittag wird Barack Obama in der Downing Street erwartet, auch er wird den Briten schmeicheln und ihnen begreiflich machen, warum sie aus US-Sicht besser in der EU bleiben sollten. Obama ist die bislang schärfste Waffe von Premierminister David Cameron im Kampf gegen den Brexit , nachdem schon die IWF-Chefin Christine Lagarde vor dem Austritt warnte.

Vorab schrieb Obama am Freitagmorgen im "Daily Telegraph", als Freund wolle er den Briten sagen, dass die EU Großbritannien nur noch großartiger mache - eine freundliche Art zu sagen: Wenn ihr geht, setzt ihr unsere spezielle Beziehung aufs Spiel.

Cameron braucht die Hilfe von draußen dringender als je zuvor. Unter den Europafreunden auf der Insel macht sich allmählich Panik breit, dass die Gegner die Oberhand gewinnen. Selbst Wohlmeinende kritisieren die pro-europäische Initiative "Britain Stronger In Europe" auf der Insel als blass und leidenschaftslos. Sie fordern etwa, nicht nur vor den Risiken eines Brexit zu warnen, wie es Cameron und seine Regierung seit Monaten tun, sondern die positiven Seiten der EU-Mitgliedschaft zu betonen - die Reisefreiheit, den Binnenmarkt, das weltpolitische Gewicht der Union und vieles mehr.

Wer kann es mit Boris Johnson aufnehmen?

Die Brexit-Bewegung hat echte Stars auf ihrer Seite, etwa den Londoner Bürgermeister Boris Johnson und Justizminister Michael Gove. Händeringend suchen die Europafreunde nach glaubwürdigen Prominenten, die es mit ihnen aufnehmen könnten. Sogar John Major ist als Geheimwaffe im Gespräch, der eher glücklose Thatcher-Nachfolger mit dem Kassengestell.

Eigentlich hätte alles anders laufen sollen. Camerons Kalkül war, vom EU-Gipfel im Februar als Sieger mit einem Aktenkoffer voller Zugeständnisse heimzukehren, um die Briten und einen Großteil seiner Partei zu besänftigen. Dadurch, so die Hoffnung in Downing Street, würde am 23. Juni eine komfortable Mehrheit für den Verbleib in der EU zustande kommen.

Diese Strategie lief ins Leere. Zwischen 130 und 140 Tory-Abgeordnete wollen nun für den Brexit stimmen, weitaus mehr, als die Regierung erwartete. Das britische Pfund sinkt auf immer neue Tiefstände , Unternehmen und Banken spüren schon jetzt eine wachsende Unsicherheit. Auch die Umfragen sehen nicht gut aus für die Regierung, die Pro-Europäer liegen nur knapp vorn. Alles deutet darauf hin, dass es sehr knapp wird am 23. Juni.

Daran ist zwar nicht nur der Premierminister Schuld - vor allem die Flüchtlingskrise lässt viele Briten noch stärker an der Union zweifeln, als sie das ohnehin schon tun. Aber gleichzeitig gibt Cameron den Europafeinden in seiner Partei seit Jahren neuen Stoff. Seine EU-Politik war lange vor allem auf Trotz und Ahnungslosigkeit aufgebaut. Zu Recht fragen seine Parteifreunde nun: Wenn ihr Boss plötzlich so tut, als würde auf der Insel nach einem Brexit die Apokalypse ausbrechen - warum drohte er dann selbst bis vor Kurzem mit dem Austritt?

David Cameron hat Horrorwochen hinter sich

Für die Pro-Europäer rächt sich, dass ausgerechnet Cameron die Hauptfigur ihrer Kampagne ist. Denn der Premier hat Horrorwochen hinter sich. Zuletzt lagen seine Zustimmungswerte bei nur 34 Prozent, während 59 Prozent unzufrieden waren - auch wegen des schlechten Krisenmanagements in der Panama -Affäre. Anfang April war herausgekommen, dass Cameron Anteile an einer Offshore-Firma seines Vaters hielt - ein Desaster für den Premier, der alles daran setzt, den Ruf seiner Tories als Reichenpartei zu entgiften. Zu allem Übel trat dann noch Iain Duncan Smith zurück, Camerons Arbeitsminister, angeblich weil die Regierung zu wenig für den armen Teil der Bevölkerung tue.

Downing Street findet nur mühsam aus dem Krisenmodus heraus. Viele Hoffnungen ruhen auf Obama. Sollte Großbritannien im Juni für den Brexit stimmen, würde sich seine Entscheidung, ein Referendum abzuhalten, als die teuerste und folgenreichste Fehleinschätzung eines Premierministers in der Nachkriegszeit herausstellen.
Das größte Problem ist, dass die Pro-Europäer zu wenig enthusiastisch sind. Vor allem junge, tendenziell europafreundliche Briten sind unsicher, ob sie beim Referendum überhaupt abstimmen werden. Eine aktuelle Umfrage sieht die Wahlbeteiligung bei 67 Prozent, mit einem überproportional hohen Anteil von Brexit-Befürwortern.

Die pro-europäische Kampagne verlässt sich bislang darauf, die besseren Argumente zu liefern. Die Regierung appelliert an den Verstand der Briten, während die Brexit-Kämpfer vor allem mit Gefühlen Stimmung machen. Es kann gut sein, dass Camerons Kalkül noch aufgeht, aber es ist eine riskante Wette. Vielleicht ist Liebe doch die bessere Strategie.

Zusammengefasst: In der Debatte um das Brexit-Referendum gewinnen die Befürworter eines EU-Austritts die Oberhand - sie setzen auf Emotionen und haben Polit-Stars wie den Londoner Bürgermeister Boris Johnson auf ihrer Seite. Nun setzt der unbeliebte Premier David Cameron auf die Unterstützung von Barack Obama.

Quelle : spiegel.de

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