Wie sich Familien von IS-Terroristen fühlen

  23 April 2016    Gelesen: 496
Wie sich Familien von IS-Terroristen fühlen
Wie fühlt sich ein Vater, dessen Sohn 38 Touristen an einem Strand erschießt oder in Terrorvideos posiert? Britische Forscher haben untersucht, wie es Angehörigen ergeht, deren Söhne und Töchter sich dem IS angeschlossen haben.
Rund 30.000 Männer und Frauen aus über 100 Staaten haben sich Schätzungen zufolge seit 2012 auf den Weg nach Syrien und in den Irak gemacht, um sich am Kampf der Terrormiliz Islamischer Staat zu beteiligen. Jeder dieser Menschen steht jedoch nicht nur für einen Terroristen, für Zerstörung und Selbstzerstörung, sondern auch für eine Familie, die er zurückließ.

In den vergangenen Jahren gingen vermehrt Väter, Mütter, Söhne, Töchter und andere Angehörige an die Öffentlichkeit und sprachen über das, was sie fühlen. Insgesamt 46 dieser öffentlichen Auftritte haben Forscher des Londoner Kings College in einer Studie untersucht und versucht, Parallelen im Empfinden der Familienmitglieder zu finden. Die Ergebnisse sind überraschend, denn sie zeigen, dass - unabhängig davon, ob sie aus Saudi-Arabien, Dänemark, Bosnien oder Kenia stammen - die Angehörigen von vergleichbaren Empfindungen betroffen sind.

Um die Aussagen der Angehörigen vergleichbar zu machen, sortierten die Forscher die Gefühlsäußerungen in Gruppen. Fielen Worte wie "Schock" und "Schrecken", wurde die Aussage etwa als "Verwirrung" codiert. Insgesamt werden zwischen vier Gruppen unterschieden: "Verwirrung", "Wut", "Scham" und "Schmerz".

Schmerz

Schmerz ist die Gefühlsäußerung, von der die meisten Aussagen geprägt waren. In 34 der 46 Fälle fanden die Autoren der Studie Hinweise auf diese Emotion. Auch wenn die Massenmedien ihre Töchter, Söhne, Brüder und Schwestern als Monster darstellte, sahen die meisten Familien ihre Angehörigen weiterhin als ihre Geliebten an. Nach ihrem Tod beziehungsweise ihren Taten stellte sich daher bei den Meisten ein starkes Gefühl des Verlustes ein.

"Es ist so schlimm. Unsere Familie ist nicht mehr die selbe. Er war das Leben in der Familie und jetzt ist er nicht mehr da. Es ist, als wäre uns das Leben ausgesaugt worden", sagte der Vater eines 19-jährigen US-Amerikaners, der sich vom IS hatte anwerben lassen, im Interview mit dem Sender NBC.

"Wenn ich unserem Sohn etwas sagen könnte, dann würde ich sagen: Bitte komm zurück, ich will nicht, dass es so schlimm endet", ist einer der Sätze, die die Mutter des britischen IS-Kämpfers Jack Letts - auch bekannt als "Jihadi Jack" - in einem Interview mit dem britischen Nachrichtensender Channel 4 sagte. Letts stammt aus der Mittelschicht Oxfords und gilt als der erste weiße britische IS-Kämpfer.

Paradoxerweise, so eine Erkenntnis der Forscher, sei das Empfinden dem eines Trauerfalles ähnlich - so eben, als sei der Angehörige gestorben. Dabei sind die meisten Terroristen in den untersuchten Fällen noch am Leben und meistens auch verantwortlich für den Tod anderer Menschen.

Verwirrung

Ebenfalls sehr häufig ist das Gefühl der Verwirrung. In 19 der 46 untersuchten Fälle fanden die Autoren Äußerungen dieser Gefühlsgruppe. Die Abreise ins Krisen- oder Kriegsgebiet kam für die meisten Familien überraschend. Einige wussten demnach, dass Sohn oder Tochter sich radikalisiert hatten, ahnten aber nicht, was das bedeuten könne oder wie weit dieser Prozess fortgeschritten war.

"Und plötzlich war er weg. Er war einfach weg. Ein paar Tage später hat er angerufen und gesagt, dass er nach Syrien gehen wird. Er hat uns verlassen. Wir haben nichts von alledem verstanden", sind die Worte des Vaters eines französischen IS-Kämpfers, der im Herbst 2015 nach Syrien reiste.

Andere Äußerungen sind den Forschern zufolge davon geprägt, zu betonen, dass in ihren Verwandten eigentlich ja das Gute liege. Typisch für diese Erkenntnis sei die Aussage einer tunesischen Mutter: "Er war ein guter Junge, der ein ehrliches Leben führte. Ich verstehe nicht, warum er jemals so etwas tun könnte."

In einigen Fällen zeigten die Angehörigen eine ausgeprägte Angst über mögliche künftige Taten der mutmaßlichen Terroristen. Aus der Gruppe, die besonders stark Gefühle der Verwirrung zeigten, hätten sich nachweislich sehr viele Personen auf die Reise in die Türkei oder nach Syrien gemacht, um ihre Angehörigen zu suchen, so die Forscher.

Zorn

In einer kleineren Gruppe fanden die Autoren starke Gefühle von Zorn. In 8 von 46 öffentlichen Auftritten äußerten sich die Angehörigen erbost über das, was ihre Söhne und Töchter tun. Dabei versuchen die Angehörigen offensichtlich, den Zorn von ihren Kindern weg zu lenken und auf externe Akteure zu verlegen. "Gehirnwäsche" ist ein häufiger Vorwurf.

"Ich weiß nicht, wer ihn kontaktiert hat, ihn beeinflusst hat und diese Ideen in seinen Kopf gepackt hat. Er hat irgendwelche neuen Freunde, die ihn da rein gezogen haben", sagte der Vater eines weiteren britischen IS-Terroristen, der 2014 nach Syrien reiste im Interview mit der BBC.

Scham

In vergleichsweise wenigen Fällen zeigen die Angehörigen ein Gefühl von Scham. In 5 von 46 Interviews oder ähnlichen öffentlichen Auftritten fanden die Forscher Äußerungen dieser Emotion. In diesen Fällen fühlten sich insbesondere Eltern schuldig und verantwortlich für das, was ihre Kinder getan hätten, so die Autoren.

"Ich bin bestürzt, diese Opfer zu sehen. Ich fühle den Schmerzen ihrer Angehörigen so sehr. Ich habe das Gefühl, mit den Opfern gestorben zu sein. Ich schäme mich so sehr", sagte etwa der Vater von Seifeddine Rezgui, der an einem tunesischen Strand 38 Touristen erschoss im Interview mit dem "Guardian".

Jedoch betonen die Forscher, dass Scham ein besonders schwer zu äußerndes Gefühl sei, dass mit Sicherheit nicht auf die fünf - nach den gegebenen wissenschaftlichen Maßstäben - gefundenen Fälle limitiert sei.

Abschließend kommen die Autoren zu der Erkenntnis, dass die Familien von IS-Terroristen stark ausgegrenzt würden und dringend Hilfe und Betreuung benötigten. Darüber hinaus sei ihr Wissen für Behörden wichtig, um künftig die Radikalisierung von Menschen zu verhindern.

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