Europa stirbt, wenn der Brenner schließt

  29 April 2016    Gelesen: 452
Europa stirbt, wenn der Brenner schließt
Die Regierung in Wien lässt einen Zaun auf dem Pass bauen. "Österreich bricht mit der Geschichte, der Logik, der Zukunft", empört sich Italiens Premier Renzi. Er hat recht.
Symbolisch unterscheidet sich ein Zaun nur unwesentlich von einer Mauer, eigentlich gar nicht. Und so ist es schon ein denkwürdig trauriges Bauen, dem man da am Brenner beiwohnt, auf diesem engen Pass zwischen dem Süden und dem Norden des Kontinents, zwischen zwei alten Ländern der EU und zwischen den beiden Tirols. 370 Meter lang soll der Zaun werden, und vier Meter hoch. Die Pflöcke sind gesetzt, das Zaungeflecht muss nur noch eingehängt werden. Es sind die Österreicher, die hier bauen, auf ihrem Boden, knapp hinter der Grenze, die seit bald 20 Jahren - Schengen sei Dank - kaum mehr spürbar ist.

Italien schaut dem Treiben mit Empörung und Verstörung zu. Premier Matteo Renzi sagt: "Österreich bricht auf ungeheuerliche Weise die europäischen Regeln, wenn es den Brenner tatsächlich schließt - und es bricht mit der Geschichte, der Logik, der Zukunft."

Noch ist es nicht so weit. Noch soll einfach mal der Verkehr gebremst werden für eine bessere Kontrolle, Höchstgeschwindigkeit dreißig Kilometer pro Stunde. Im Notfall aber, heißt es aus Wien, würde man ganz sperren. Mit Notfall ist die massenhafte Ankunft von Menschen gemeint, die in den kommenden Monaten über das Mittelmeer fliehen könnten. Aus Libyen über Sizilien nach Norden, zum Beispiel über den Brenner. Seit der Schließung der Balkanroute ist diese Prognose nicht nur plausibel: Sie ist sicher. Denn die gefährliche Route über die Straße von Sizilien ist für viele Flüchtlinge der einzige Ausweg.

Den Notfall ortet Wien aber vor allem in Rom. Die Österreicher trauen den Italienern nicht zu, dass sie es schaffen, den Migrationsstrom zu stoppen. Auch diese Prognose trifft zu. Wie sollten es die Italiener auch schaffen können, selbst wenn sie es wollten? Die blaue Grenze, jene im Meer, lässt sich nicht schließen, auch mit Zäunen nicht. Die Italiener haben sich stattdessen in den vergangenen Jahren der hehren Aufgabe verschrieben, Zehntausende Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Nebenbei retteten sie so auch die Würde Europas. Sie taten das zu einer Zeit, als dieses Europa wegschaute und die Tragödien im Mittelmeer ignorierte, als wären sie eine rein italienische Angelegenheit.

Natürlich stimmt es, dass die Italiener oftmals gegen die Bestimmungen des Dubliner Abkommens verstoßen haben: Sie winkten Migranten durch, ohne sie zu registrieren. Manchen drückten sie wohl ein Zugticket nach Norden in die Hand. Doch wer kann es ihnen verübeln? Ihre Appelle zur Solidarität in der EU, zum gemeinsamen Tragen und gerechten Verteilen der Bürde verklangen. Sie prallten ab an nationalen Egoismen. Dublin, darin sind sich heute fast alle einig, ist zur Groteske verkommen. Doch das Vertragswerk gilt nach wie vor. Und Österreich beruft sich darauf, gebärdet sich hart und misstrauisch.

Der Mauerbau könnte zum Fanal für Europas Versagen werden
Wahrscheinlich spielen innenpolitische Motive eine Rolle. Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, welche die extreme Rechte gewonnen hat, versucht sich die Regierung in Wien in Aktionismus, um Schaden zu begrenzen. Aber das macht die Sache nicht besser, im Gegenteil.

Der Mauerbau am Brenner könnte zum Fanal für Europas Versagen in der Flüchtlingsfrage werden. Ausgerechnet der Brenner. Er ist mehr als eine Passage durch die Alpen. In Südtirol, das ein Jahrhundert lang unter der Trennung von Resttirol litt, empfand man die Abschaffung des Schlagbaums einst wie die Linderung einer historischen Ungerechtigkeit. Plötzlich vereinte dieser Pass, der die beiden Regionen davor getrennt hatte. Nun droht ein Rückschritt, ein Zurückspulen zum Nationalen, eine Absage an noble Errungenschaften.

Europa stirbt, wenn der Brenner schließt, sagen die Italiener. Das hört sich dramatisch an, auch ein bisschen pathetisch. Es trifft es aber ziemlich gut.


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