In der fünften Minute der Nachspielzeit war Vincent Kompany der Verzweiflung nahe. Für einen Augenblick zwar nur, aber er wusste, das wäre es gewesen. Joao Palhinha, der vergessene 51-Millionen-Euro-Mann des FC Bayern hatte eine zauberhafte Vorlage von Jamal Musiala tüchtig an die Latte genagelt. Es hätte 4:0 für die Münchner im größten deutschen Klubfußballspiel (Teil I) seit zwölf Jahren stehen können, vielleicht, sogar stehen müssen. Die Entscheidung im hoch gepushten Duell gegen Bayer Leverkusen, in dem es um Machtansprüche, um Matchpläne und Millionen ging, wäre schon vor dem Anpfiff des Rückspiels am Dienstag (21 Uhr im Liveticker bei ntv.de) in Stein gemeißelt gewesen. Trotz all der verrückten Dinge, die der Fußball schon geschaffen hat.
Aber Palhinha hatte es zu genau gemacht. So reist der FC Bayern nächste Woche mit einem 3:0 nach Leverkusen und hat auch ohne dieses verpasste Sahnehäubchen beste Chancen, Bayer aus dem Achtelfinale der Champions League zu werfen und die Frage nach der mächtigsten Instanz im deutschen Fußball klar zu beantworten. So wie sie es vor zwölf Jahren in Wembley getan hatten, als Arjen Robben den BVB rüde zu Boden geworfen hatte und der Henkelpott nach München wanderte. Diese Geschichte soll sich nun wiederholen, mit dem "Finale dahoam".
Davon träumen sie beim Rekordmeister. Es ist eine tief in die DNA des Klubs eingebrannte Sehnsucht, eine Besessenheit nach der Krone, nach den turbulenten Jahren mit den unruhigen Trainern Julian Nagelsmann und Thomas Tuchel und den Bossen Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic. Der Weg zum Finale ist noch wahnsinnig weit, der Zielstrich nicht mal am Horizont zu erahnen. Zu viele Klippen und Serpentinen liegen noch vor ihnen.
Neuer bügelt einzigen Bayern-Fehler großartig aus
Aber vermutlich hat eine Münchner Mannschaft unter Trainer Vincent Kompany noch keine bessere Leistung gegen einen Gegner auf diesem Niveau auf den Rasen gebracht. Bis auf eine läppische Abwehraktion von Dayot Upamecano, die den blitzschnellen Jeremie Frimpong plötzlich ins Rampenlicht brachte, der Manuel Neuer zu einer herausragenden Parade mit dem Schultergelenk zwang, leisteten sich die Münchner keine Wackler, keine Fehler. In einem Spiel, das keine Fehler verzeiht. Anders als Bayer, die schon früh damit begannen.
Nach neun Minuten war in der Allianz Arena alles hinfällig, was an taktischen Details ausgetüftelt worden war, um den Gegner zu überlisten. Harry Kane setzte einen Kopfball perfekt in die Ecke des Bayer-Tors. Er hatte sich unbemerkt an Nordi Mukiele herangeschlichen und ihn dann überrascht. Bayer reagierte über Frimpong, der aber an Neuers Schulter verzweifelte (13.). Wenn es in diesem vierten Duell der beiden Giganten in dieser Saison einen Moment gab, in dem dieses Spiel in eine andere Richtung hätte abbiegen können, war es jener. Sonst kam von Bayer offensiv nahezu nichts. Die Münchner legten die großen Helden der Werkself in Ketten. Florian Wirtz bekam Joshua Kimmich auf die Füße gestellt und wusste sich gar nicht zu befreien. Granit Xhaka bemühte sich nach Kräften, die aufgescheuchten Reihen zusammenzuhalten, es gelang nur leidlich.
Wirtz war an diesem Abend dermaßen frustriert, dass er in der zweiten Halbzeit bei jedem unsauber gespielten Angriff, bei jedem ins Leere gelaufenen Pressing vor Wut gestikulierte. Bayer gelang nichts, dem FC Bayern sehr viel. Alles war ganz anders, als noch vor zweieinhalb Wochen, als Leverkusen die Münchner zu einem historisch harmlosen Offensivzwerg degradiert hatte. Die Werkself presste wie von Sinnen, die Bayern ackerten, gegen die eigene DNA, wie die Wilden dagegen. Xabi Alonso hatte den fast perfekten Plan entworfen, nur das Tor fehlte. Hernach gab's Debatten, ob ein echter Neuner, zwei ganz fantastische davon hat der Spanier im Aufgebot, den Leverkusenern nicht mehr geholfen hätte, als die wuseligen und nervtötenden Dauersprinter in vorderster Linie.
Mukiele tritt zu, Bayers Widerstand ist gebrochen
Alonso moderierte die Debatte ab, man würde es ja ohnehin nie erfahren. Und offenbar ist er gewillt, der Welt eine Antwort auf die Frage weiter vorzuenthalten. Denn auch in der Champions League startete er wieder mit einer Mannschaft, die die Dinge über Tempo und Tiefe regeln sollte. Das tat sie aber nicht. Der FC Bayern war perfekt vorbereitet. Gegen das Bayer-Pressing gab's lange Schläge oder einen Aufbau über den überragenden Kimmich, dessen Zukunft sehr bald geklärt sein soll. Was den Münchner fehlen wird, sollte der Spieler wirklich gehen, Paris St. Germain soll offenbar sehr interessiert sein, bekamen sie nochmal als Art finale Warnung der Wertigkeit in 90 eindrucksvolle Minuten gepresst. Kimmich meldete Wirtz ab, dirigierte als nicht greifender Anführer das erheiternde Münchner Spiel und bereitete das 2:0 vor. Seine Flanke flutschte auf bitterste und fatalste Weise durch die Hände von Keeper Matej Kovar, Musiala stocherte den Ball über die Linie (54.).
Dass sich das Spiel besonders günstig auf die Gespräche mit Kimmich auswirken würde, lächelte Sportvorstand Max Eberl locker weg. Ein solches Spiel habe er nicht gebraucht, um neue Erkenntnisse über "den Wert von Josh" zu bekommen. Kimmich selbst gab später in den Katakomben der Arena eine durchaus überraschende Antwort zu seiner Lage: "Der Ball liegt nicht bei mir, sagen wir's mal so." Aber wo liegt er dann, der Ball? Beim Verein? Ja, fand Kimmich. Dieser hatte das Vertragsangebot jüngst zurückgezogen, was Vorstandschef Jan-Christian Dreesen nach dem Spiel im Stadion bestätigte: "Das haben wir schon gesagt, dass das Vertragsangebot zurückgezogen war. Das ist keine große Neuigkeit. Das ist so." Es sei "an die Öffentlichkeit gedrungen, dass das Angebot zurückgezogen wurde. Trotzdem war es in der Kommunikation nicht so, dass ich das so wahrgenommen habe", sagte derweil Kimmich ein wenig kryptisch. Wenn etwas die Münchner derzeit stresst, dann ist es dieses zermürbende Theater. Und vielleicht eine neue Sorge.
Manuel Neuer, der Held der ersten Minuten, hatte einen Heidenspaß an dem zweiten Münchner Treffer, den er aber teuer bezahlte. Er musste verletzt runter. Trainer Kompany sagte, es seit etwas mit der Wade. Für ihn kam Youngster Jonas Urbig. Bayern machte unbeeindruckt weiter und als der Gelb verwarnte Mukiele übermotiviert auf Kingsley Coman trat, war Bayer nur noch zu zehnt - und endgültig gebrochen. Xabi Alonso versuchte mit Wut über die Entscheidung Milde zu erwirken. Es misslang, er hatte einfach verpasst, den verwarnten Spieler früher auszuwechseln. Minuten später kochte Upamecano Wirtz kompromisslos und geschickt ab. Er pushte sich hoch. Er war damit nicht alleine. Die Bayern waren oben. Und so ging es für Bayer weiter bergab. Der eingewechselte Edmond Tapsoba rang Kane im Strafraum ungeschickt nieder. Elfmeter und Kane traf zum 30. Mal (!) in Folge. Die Arena war restlos beseelt. Die Fans besangen Beckenbauers "gute Freunde" und die "Super-Bayern".
Xhaka bügelt Wirtz-Frage ab
Die waren auferstanden, um die Machtverhältnisse in Deutschland wieder zurechtzubiegen. In der Meisterschaft haben sie zwar den Titel nahezu sicher, aber darum ging es ja längst nicht mehr. Alles hatte sich auf diese beiden Spiele fokussiert. Das trieb wilde Blüten, es wurde gar dokumentiert, wie die Stars des FC Bayern anreisen. Leon Goretzka saß mit seiner Freundin im Auto. Das war offenbar wichtig. Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge hatten die guten alten Zeiten aufleben lassen und Leverkusen eine Transferdebatte um Wirtz umgehängt. Der war an diesem Abend so unauffällig, wie man es lange nicht erlebt hatte. Granit Xhaka, der wütende Bayer-Anführer, wich gar Fragen aus, warum Wirtz so wirkungslos war: "Nächste Frage", bellte er in der Mixed Zone.
Die Münchner dagegen waren topfit aus dem arg anstrengenden Februar mit einem Topspiel nach dem anderen gekommen. Sie rannten, bissen, kämpften und spielten mutig. Manchmal zauberten sie sogar, wenn Musiala seine herausragenden Füße im Spiel hatte und magische Dinge mit dem Ball anstellte. Erst aber war es immer wieder Michael Olise, der die Flanke zum 1:0 geschlagen hatte, der Bayer zusetzte, dann ging es über Kingsley Coman und Alphonso Davies, die die linke Seite mit ihrem wahnsinnigen Tempo und ihrer Physis überlagerten. Frimpong und Mukiele wurden mehrfach frustriert. Um den sehr emotionalen Frimpong soll es nach dem Spiel noch einen kleinen Vorfall im Kabinentrakt gegeben haben. Was genau passiert ist, das sagte niemand.
Die Bayern hatten Leverkusen so richtig die Laune verdorben. Endlich war der Unbesiegbare Xabi Alonso besiegt. Kompany feierte seinen größten und wichtigsten Sieg als Trainer der Münchner, auch wenn er die Bedeutung für sich gewohnt demütig herunterspielte: "Es gibt keine Siege von mir persönlich. Wir gewinnen als Mannschaft und wir verlieren als Mannschaft. Sicherlich war es bisher unser wichtigster Sieg dieser Saison, worüber wir uns sehr freuen." Und so richtig wertvoll ist dieser Sieg ohnehin erst, wenn er nächste Woche veredelt wird. Mit einem 3:0 sind die Voraussetzungen bestens, sie hätten noch besser sein können. Kompany spürte das.
Quelle: ntv.de
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