Auf der Erde könnten einer Studie zufolge weitaus mehr Menschen leben als nach gängigen Schätzungen angenommen. Ein erheblicher Teil der Landbevölkerung fehle in globalen Bevölkerungsdaten, berichtet ein Forscherteam im Fachjournal "Nature Communications". Auffällige Diskrepanzen gibt es demnach zum Beispiel in China, Brasilien, Australien, Polen und Kolumbien. Da nach derzeitigen Schätzungen 43 Prozent der weltweit 8,2 Milliarden Menschen in ländlichen Gebieten lebten, hätten die neuen Erkenntnisse weitreichende Konsequenzen.
Schätzungen zur Weltbevölkerung, wie sie etwa von den Vereinten Nationen und der Weltbank genutzt werden, basieren vorwiegend auf Volkszählungen, aber zum Beispiel auch auf Satellitenbildern, die über Bebauung und nächtliche Beleuchtung Aufschluss geben. Verstreute Weiler und Dörfer seien auf solchen Aufnahmen oft kaum oder gar nicht zu erkennen, heißt es in der Studie.
Erfassung auf dem Land oft besonders schwierig
Nicht alle Länder verfügen über die Ressourcen für eine präzise Datenerhebung, gerade ländliche Regionen mit weit verstreut lebender Bevölkerung sind oft schwer zu erfassen, geben die Forschenden um Josias Láng-Ritter von der Aalto-Universität in Helsinki zu bedenken. Mitunter erschwerten auch Konflikte die Zählung oder es gebe Widerstand gegen die Teilnahme. "Solche Herausforderungen können zu einer erheblichen Unvollständigkeit der Zählung führen. In Paraguay zum Beispiel wurde bei der Volkszählung 2012 möglicherweise ein Viertel der Bevölkerung nicht erfasst."
Das Team um Láng-Ritter nutzte nun Umsiedlungsdaten aus Staudammprojekten für eine Überprüfung. "Wenn Staudämme gebaut werden, werden große Gebiete überflutet und die Menschen müssen umgesiedelt werden", erklärte der Forscher. "Die umgesiedelte Bevölkerung wird in der Regel genau gezählt, weil die Staudammunternehmen den Betroffenen Entschädigungen zahlen."
Staudammprojekte als Hilfsmittel für realistische Werte
Diese vor Ort durchgeführten Bevölkerungszählungen seien mit räumlichen Informationen aus Satellitenbildern kombiniert worden. Berücksichtigt wurden mehr als 300 ländliche Staudammprojekte in 35 Ländern. Die erhaltenen Werte verglichen die Forscher mit denen aus den fünf am häufigsten verwendeten globalen Bevölkerungsdatensätzen.
Die darin angegebenen Bevölkerungszahlen unterschätzten die tatsächliche Zahl demnach um 53 (Datensatz WorldPop) bis 84 Prozent (GHS-POP). "Dies bedeutet, dass die ländliche Bevölkerung selbst im genauesten Datensatz im Vergleich zu den gemeldeten Zahlen um die Hälfte unterschätzt wird." Für alle fünf untersuchten Datensätze wurden nur systematische Unterschätzungen gefunden. Ländliche Regionen seien infolgedessen beim Zugang zu Dienstleistungen, Ressourcen und Entwicklungschancen wahrscheinlich immer wieder benachteiligt worden, schließen die Forscher.
Verzerrung wahrscheinlich nach wie vor vorhanden
Die Studie konzentrierte sich auf Bevölkerungskarten für den Zeitraum von 1975 bis 2010, da für spätere Jahre keine Staudammdaten vorlagen, wie die Forschenden erläutern. Die Genauigkeit der Karten habe sich im Laufe der Jahrzehnte etwas verbessert, es sei aber anzunehmen, dass die neuesten Daten immer noch einen Teil der Weltbevölkerung übersehen. "Es ist unwahrscheinlich, dass eine geringfügige Verbesserung der Eingabedaten dieses Ausmaß an Verzerrung korrigieren könnte, wenn dieselben grundlegenden Verfahren angewandt werden", sagte Láng-Ritter.
"Die von uns festgestellten Verzerrungen erfordern eine kritische Diskussion über vergangene und künftige Anwendungen dieser Datensätze, um das Risiko zu mindern, dass ländliche Bevölkerungsgruppen systematische Nachteile bei der Zuweisung von Ressourcen und Dienstleistungen erfahren", so die Forscher.
Die Datensätze seien in Tausenden von Studien verwendet worden und hätten in hohem Maße zur Entscheidungsfindung beigetragen, etwa bei der Ressourcenzuteilung, Gesundheitsversorgung und Planung von Infrastruktur, sagte Láng-Ritter. Ohne grundlegende Überprüfung drohe das auch weiterhin der Fall zu sein. Es gehe um Fragen wie: Brauchen wir dort ein Krankenhaus? Wie viele Medikamente werden in dem Gebiet benötigt? Wie viele Menschen könnten dort von Naturkatastrophen betroffen sein?
Quelle: ntv.de, Annett Stein, dpa
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