"Ich hätte schreien und kotzen können", sagt Parteikollegin Elen Debost. Für die Politikerin war das der Gipfel der Heuchelei. Noch am selben Tag postete sie den Tweet auf ihrer Facebook-Seite und kommentierte: "Wirklich beschämend, wie er sich über uns lustig macht: Denis Baupin mit Lippenstift und der Parole `Ich unterstütze die Frauen …`"
Zwei Journalisten von "France Inter" und dem Onlinemagazin "Mediapart" gingen der Sache nach. Debost sagte, Baupin habe sie monatelang belästigt und mit anzüglichen Textnachrichten bombardiert. Offenbar war sie nicht die Einzige. Bei der Recherche stießen sie bei den französischen Grünen auf ein "System der Omertà", ein Gesetz des Schweigens, wie man es von der Mafia kennt: Viele wussten Bescheid, niemand traute sich, an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch am Montag wurden die Anschuldigungen von insgesamt acht Parteikolleginnen öffentlich, vier berichteten anonym, die anderen vier gingen vor die Kamera.
Baupin sprach von "lügnerischer Verleumdung", legte aber noch am selben Tag sein Amt als Vizepräsident der Nationalversammlung nieder. Als "DSK der Grünen" wird er nun von den französischen Medien bezeichnet. Tatsächlich erinnern die Vorwürfe an diejenigen, die französische Journalistinnen öffentlich machten, als der damalige Chef des Internationen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, in New York wegen Vergewaltigung eines Zimmermädchens angeklagt wurde.
Am Montag lancierten über 500 Frauen und Männer eine Petition gegen sexuelle Belästigung von Politikern und forderten das "Ende der Straffreiheit". Das Problem sei seit Jahren bekannt, aber nichts passiere. Vor genau einem Jahr hatten 40 französische Journalistinnen in der Zeitung "Libération" ein Manifest veröffentlicht, in dem sie den "herrschenden Sexismus" denunzierten: deplatzierte Bemerkungen, Hände auf Oberschenkeln oder dubiose Tauschgeschäfte wie "eine Info gegen einen Apéro". "Wir dachten, die DSK-Affäre habe die Linien verschoben, und das machohafte Verhalten, das Symbol altmodischer Politik, sei vom Aussterben bedroht. Irrtum."
Unter den acht Frauen, die gegen Baupin Zeugnis abgelegt haben, ist auch Sandrine Rousseau, Parteisprecherin von Europe Écologie-Les Verts (EELV). Für sie war ebenfalls der Tweet der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Rousseau berichtet, wie sie 2011 von Baupin auf dem Weg zur Toilette in einem Gang "gegen die Wand gedrückt" worden sei. Er soll ihren Busen begrabscht und versucht haben, sie zu küssen. Zurück auf ihrem Platz, erzählte sie fassungslos ihrem Tischnachbarn, was passiert war. Der einzige Kommentar lautete: "Mist, hat er wieder angefangen."
Belästigung weithin in der Partei bekannt
Rousseau, damals neu in der Partei, informierte zwei Kollegen, aber traute sich nicht weiterzugehen: "Ich hatte Angst, dass man mir nicht glaubt, dass man mich für verrückt hält, dass ich diejenige bin, die für Ärger sorgt." Seit der Skandal öffentlich ist, räumen etliche Grüne ein, dass man auf peinliche Weise versagt habe. Die einen versuchten, sein Verhalten als "übertriebene Anmache" abzutun. Ein anderer Parteifunktionär gestand: "Es war weit-, wirklich weithin in der Partei bekannt."
"Fast täglich hat er mich mit Hunderten von provozierenden und schmierigen SMS belästigt", berichtet eine andere Abgeordnete, Isabelle Attard. Sie habe von mehreren Kolleginnen gewusst, die ähnliche Nachrichten bekamen. Während Arbeitssitzungen habe Baupin sie regelmäßig angemacht, anfangs im spaßigen Ton, der dann sehr schnell "lästig, ja nervend" wurde.
Als Spezialistin für Energiefragen der französischen Grünen ließ sich der Kontakt mit Baupin für sie nicht komplett vermeiden. Sie ging deshalb zu Terminen nur in Begleitung eines Assistenten. "Mir war das sehr unangenehm, einen Mitarbeiter mitzunehmen, der dort seine Zeit als Bodyguard, Beschützer und Verhinderer schmieriger Witze vergeudete, weil ich mich sonst unwohl gefühlt hätte."
Die meisten Vorwürfe liegen Jahre zurück und könnten vor Gericht als verjährt eingestuft werden. Auf die Frage, warum sie nicht früher damit an die Öffentlichkeit gegangen sind, sagen die Frauen der Grünen, sie hätten dem Ruf der Partei nicht schaden wollen. Inzwischen zieht der Skandal seine Kreise weit über diese hinaus. Die politische Klasse Frankreichs wird mal wieder mit ihren Usancen und Unsitten konfrontiert, die bis zur DSK-Affäre gern als charmanter, wenn auch aus der Zeit gefallener Donjuanismus abgetan wurden.
Darüber hinaus ist Baupin Ehemann von Wohnungsministerin Emmanuelle Cosse, die erst im Februar wegen ihrer Berufung in die Hollande-Regierung als Generalsekretärin der französischen Grünen zurückgetreten ist. Cosse sagte gestern, sie sei schockiert und reagiere "als Frau, als Lebensgefährtin, als Mutter und Ministerin". Die Vorwürfe, so Cosse, sollten allerdings nicht in den Medien, sondern vor Gericht geklärt werden.
Quelle : welt.de
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