36 Minuten waren gespielt, da wehrten die Gastgeber beim Stand von 1:1 einen Eckstoß ab und leiteten blitzschnell einen Konter ein. Bellarabi trieb den Ball durchs Mittelfeld und hatte in der Mitte der gegnerischen Hälfte gleich drei Anspielmöglichkeiten. Es roch nach einem Tor, deshalb griff Ingolstadts Kapitän Matip zum taktischen Foul, indem er dem deutschen Nationalspieler ein Bein stellte. Winkmann pfiff, nestelte schon einmal die Gelbe Karte aus seiner Brusttasche und machte sich auf den Weg zu Matip. So weit, so alltäglich.
COLLINAS ERBEN
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands einziger Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf n-tv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Fußball-Verband Mittelrhein und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Plötzlich jedoch nahm die Situation einen anderen Verlauf als den erwarteten: Bellarabi, der nach dem Foul einige Meter über den Rasen gerutscht war, stoppte den Ball mit der Hand, stand auf und führte flugs den Freistoß aus. Die Spieler des FC Ingolstadt, die nach dem Pfiff den Spielbetrieb eingestellt hatten, sahen so verwundert wie tatenlos zu, wie der mitgelaufene Kevin Kampl in Ballbesitz kam und die Kugel schließlich ins Tor der Gäste schob. Der Unparteiische hatte erst gezögert, ließ die Leverkusener dann jedoch gewähren, steckte die Gelbe Karte wieder weg und gab den Treffer - sehr zum Unwillen der Ingolstädter, die aufgebracht beim Referee protestierten. Tatsächlich gab es für ihren Unmut mehrere Gründe. Zum einen hatte Guido Winkmann es zugelassen, dass der Freistoß in einiger Entfernung vom Tatort ausgeführt wurde. Zwar sollen die Schiedsrichter bei der Festlegung des Freistoßortes grundsätzlich nicht allzu pingelig sein, um den Spielfluss nicht unnötig zu hemmen. Das gilt jedoch vor allem für Freistöße in der eigenen Hälfte und im Mittelfeld. Je größer dagegen die Tornähe ist, desto genauer sollen die Unparteiischen sein. Als Bellarabi den Freistoß zu Kampl spielte, hatte er die Stelle, an der er von Matip zu Fall gebracht worden war, um rund zehn Meter nach vorne verlegt - eigentlich zu viel, um noch toleriert werden zu können.
Zum anderen verließ sich der FC Ingolstadt mit Recht darauf, dass eine schnelle Spielfortsetzung ausgeschlossen sein würde. Denn wenn der Schiedsrichter die Gelbe Karte hervorholt, zeigt er sie normalerweise auch, und danach muss die Partie den Regeln zufolge zwingend mit einem Pfiff wieder freigegeben werden. Hinzu kommt, dass der Unparteiische, wenn die Begegnung unterbrochen ist, das Aussprechen einer fälligen Verwarnung nicht auf die nächste Spielruhe vertagen darf. Doch Guido Winkmann entschied sich kurzerhand völlig überraschend, entgegen seiner ursprünglichen Absicht auf die Karte zu verzichten und stattdessen die schnelle Freistoßausführung zuzulassen. Vom Grundgedanken her war das zwar eine gute Idee, weil die Leverkusener so ihren erfolgversprechenden Angriff, der durch das Beinstellen von Matip unterbrochen worden war, rasch wiederaufnehmen konnten. Selbst der Verzicht auf die Gelbe Karte war in diesem Fall zu rechtfertigen, schließlich wird nach einem taktischen Foul, bei dem der Referee anschließend die Vorteilsbestimmung anwendet und das Spiel laufen lässt, ebenfalls von einer Verwarnung abgesehen. Das für alle ersichtliche Ziehen der Gelben Karte - das die Gäste begreiflicherweise zum Anlass nahmen, ihre Aktivitäten einzustellen - und die Ausführung des Freistoßes fernab vom eigentlichen Tatort (bei der überdies der Ball nicht vollständig ruhte) hätten jedoch Gründe sein müssen, die Partie erneut zu stoppen, Matip wie geplant zu verwarnen und den Freistoß an der richtigen Stelle wiederholen zu lassen.
Aytekin ohne Fehler im Abstiegsendspiel
Die beiden Spiele, die über Abstieg, Relegation und Klassenerhalt entschieden, brachten die Unparteiischen derweil ohne jeden Fehl und Tadel über die Bühne. Manuel Gräfe hatte beim 3:1 des VfL Wolfsburg über den VfB Stuttgart, durch das die Schwaben nun den Gang in die Zweite Liga antreten müssen, allerdings auch kaum knifflige Entscheidungen zu treffen. Sein Kollege Deniz Aytekin war in der bemerkenswert fairen Begegnung zwischen Werder Bremen und Eintracht Frankfurt lange Zeit ebenfalls nicht mit heiklen Herausforderungen konfrontiert, musste kurz vor Schluss jedoch in der spielentscheidenden Situation im Verbund mit seinem Assistenten in Sekundenbruchteilen eine Zentimeterentscheidung treffen. Denn als Zlatko Junuzovic in der 88. Minute aus dem Mittelfeld einen Freistoß in den Frankfurter Strafraum schlug, befand sich Claudio Pizarro in stark abseitsverdächtiger Position.
Erst die Standbilder des Fernsehens bewiesen, dass der Frankfurter Haris Seferovic mit seinem rechten Fuß das Abseits des Peruaners aufhob. Von Pizarro gelangte der Ball zu Anthony Ujah, der ihn vor das Frankfurter Tor schlug, wo Papy Djilobodji goldrichtig stand und die Kugel schließlich zum Tor des Tages über die Linie drückte - Werder war dadurch gerettet, Frankfurt muss nun in die Relegation. Das Schiedsrichterteam hatte diese extrem schwer einzuschätzende Situation richtig beurteilt, wozu neben einem herausragenden Auge und dem richtigen Positionsspiel immer auch ein bisschen Glück gehört. Es war auf der Seite des besonnen und umsichtig leitenden Deniz Aytekin und seines Helfers an der Seitenlinie.
Kircher, Meyer und Weiner hören auf
Drei Unparteiische verabschiedeten sich nach vielen Jahren aus der Bundesliga, weil sie die Altersgrenze von 47 Jahren erreicht haben: Knut Kircher, Florian Meyer und Michael Weiner pfiffen am 34. Spieltag ihr letztes Spiel im deutschen Oberhaus. Mit ihnen verliert der Fußball ausgesprochen erfahrene Schiedsrichter - das Trio kommt zusammen auf sage und schreibe 769 Einsätze in der Eliteklasse -, die bei den Klubs zudem sehr angesehen waren. Es zu ersetzen, wird nicht leicht sein. Knut Kircher sagte vor dem Rückrundenbeginn im Gespräch mit n-tv.de, dass die Ansprüche an die Unparteiischen immer weiter stiegen, man jedoch realistisch bleiben müsse: "Diese Null-Fehler-Erwartung, die Zuschauer und Mannschaften haben, erfüllen wir nicht. Wir sind Menschen und keine Roboter."
Im Interview der "Stuttgarter Nachrichten" monierte Kircher unlängst zudem, dass "die psychologische Kriegsführung von der Trainerbank als taktisches Mittel viel ausgeprägter eingesetzt" werde als früher und dass es für die Referees oft schwierig sei, Zugang zu den Übungsleitern zu finden. Auch an den Spielern übte der Diplomingenieur Kritik: "Die Profis nehmen immer weniger Rücksicht darauf, ob sich ein Gegenspieler verletzen könnte - zum Beispiel bei der Unart, ihm auf den Fuß zu treten." Das Lamentieren nehme ebenfalls immer stärker zu. Es sei erschreckend, so Kircher, "dass heute Entscheidungen einfach nicht mehr akzeptiert werden". Allerdings seien daran auch die Schiedsrichter beteiligt: "Wir haben das einreißen lassen." Diesen Trend zu stoppen und umzukehren, wird für die Unparteiischen eine schwierige Aufgabe sein.
Tags: