Nach dem Austritt: Wie die EU die Briten für den Brexit bestrafen würde

  02 Juni 2016    Gelesen: 298
Nach dem Austritt: Wie die EU die Briten für den Brexit bestrafen würde
Nach dem EU-Austritt ginge es Großbritannien besser - sagen die Brexit-Befürworter. Europapolitiker und Experten erwarten hingegen, dass Brüssel ein Exempel statuieren würde.

David Cameron fühlte sich als Sieger. Großbritannien genieße jetzt einen "Sonderstatus" in der EU, sagte der britische Premierminister, nachdem er Ende Februar die EU-Mitgliedschaft seines Landes neu ausgehandelt hatte. Niemals werde Großbritannien einem "europäischen Superstaat" angehören, niemals dem Euro oder einer europäischen Armee beitreten, und dennoch könne es in der EU mitentscheiden. "Wir bekommen das Beste beider Welten", schwärmte Cameron.


Glaubt man aber den Befürwortern eines britischen EU-Austritts, ist das alles nur ein Vorgeschmack auf die paradiesischen Zustände, die erst nach einem Brexit anstünden: Großbritannien wäre völlig frei von den Fesseln der EU, würde aber weder Macht noch Geld verlieren - das "Beste beider Welten", nur noch besser als Camerons Version.

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Im Rest der EU aber hält man das für reine Phantasie. Politiker und Experten in Kontinentaleuropa sind sich weitgehend einig: Sollten die Briten beim Referendum am 23. Juni für den Austritt stimmen, würde die EU sie hart anfassen. "Der Deserteur wird nicht mit offenen Armen empfangen", sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Das steht für die Haltung der Kommission ebenso wie für die Einstellung anderer Regierungen."

Manfred Weber, Chef der Christdemokraten und damit der größten Fraktion im Europaparlament, sieht das ähnlich. Nach einem Brexit würden sowohl die Staats- und Regierungschefs als auch das Europaparlament "eine konsequente Linie verfolgen". "Der britischen Rosinenpickerei würde ein Ende gesetzt", so Weber. Elmar Brok (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, kündigt an: "Wir werden die Entscheidung der Briten ernst nehmen. Wenn sie raus sind, sind sie raus."

Briten wollen Binnenmarktzugang - aber ohne die Regeln

Für die Briten wäre es jedoch wirtschaftlich von enormer Bedeutung, auch nach dem Austritt weiter Zugang zum EU-Binnenmarkt zu haben. Rund die Hälfte der britischen Warenexporte und ein Drittel der Dienstleistungen, darunter die für London wichtigen Finanzgeschäfte, gehen in Richtung EU. Sollten die Briten nicht mehr Mitglied des Binnenmarkts sein, würde all dies deutlich erschwert.

Aber: Im Binnenmarkt gelten Regeln - und sie sind für das Brexit-Lager eines der Hauptargumente für den Austritt. Dass die EU den Briten nach einem Austritt aber beim Binnenmarktzugang Sonderrechte einräumt, gilt in Brüssel als unvorstellbar. "Das würde die Büchse der Pandora öffnen", meint ein EU-Abgeordneter. Auch andere Staaten würden dann Ausnahmen fordern. Würden die Briten nach einem Brexit "weiter die EU-Privilegien zum Nulltarif" bekommen, warnt Udo Bullmann, Chef der SPD-Gruppe im Europaparlament, "würde das die EU als Gemeinschaft der solidarisch Handelnden zerstören."

Die Gerechtigkeit unter den Binnenmarktmitgliedern wäre der erste gute Grund für die EU, den Briten nicht weiter entgegenzukommen. Zum Binnenmarkt gehören neben den EU-Staaten auch die Nicht-EU-Mitglieder Schweiz und Norwegen. Insbesondere der skandinavische Staat wird von den Brexit-Befürwortern gern als Modell genannt. Würden die Briten diesem Modell folgen, hätten sie allerdings wenig gewonnen:

Sie müssten weiterhin in den EU-Haushalt einzahlen - sogar mehr als zuvor, denn der "Briten-Rabatt" wäre nach einem Brexit wohl passé.
Sie müssten weiterhin rund 80 Prozent der Binnenmarktregeln befolgen, darunter die Personenfreizügigkeit. Der polnische Klempner, mit dem die Londoner Boulevardmedien gerne Stimmung machen, dürfte also auch künftig in Großbritannien wohnen und arbeiten. Für Gianni Pittella, Chef der Sozialdemokraten im EU-Parlament, ist das nicht verhandelbar: Wollten die Briten Zugang zum Binnenmarkt haben, "muss dies aus unserer Sicht mit dem Respekt der Freizügigkeit einhergehen".
Sie könnten über die Ausarbeitung der Regeln nicht mehr mitentscheiden, denn nach einem Austritt hätten sie keine Stimme mehr in der EU - so wie Norwegen und die Schweiz.
Der zweite und wichtigste Grund für die EU, nach einem Brexit eine harte Haltung zu zeigen, liegt außerhalb Großbritanniens: die Gefahr eines Dominoeffekts. In den Niederlanden und Dänemark, aber auch in Frankreich gibt es bereits Forderungen nach Austrittsreferenden. "Insbesondere die Nicht-Euro-Länder in der EU werden sich sehr genau ansehen, welchen Deal die Briten bekommen", sagt Bert Van Roosebeke vom Freiburger Centrum für Europäische Politik (cep).

Glauben Sie, dass bei einem Brexit weitere Länder die EU verlassen?

Sollte die EU mit den Briten nach deren Austritt allzu freundlich umgehen, könnte "das Wahlverhalten in anderen Staaten in eine Richtung gehen, die wir nicht wünschen", sagt Kommissionschef Juncker. Für die EU käme das zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, denn die Fliehkräfte sind schon jetzt gewaltig: Die Euro-Krise und das Griechenland-Drama haben die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Nord und Süd brutal offenbart, und in der Flüchtlingskrise scheint inzwischen jeder Staat vor allem für sich selbst zu kämpfen.

"Endlich sind die Blockade-Briten weg"

Für eine Bestrafung der Briten hätte die EU durchaus die Mittel. Denn der Austritt aus der EU ist eine langwierige Sache. Laut Artikel 50 des EU-Vertrags müsste London mit Brüssel ein Abkommen über den Austritt verhandeln, das die anderen EU-Staaten dann mit qualifizierter Mehrheit absegnen. Auch das EU-Parlament muss am Ende zustimmen. In Brüssel rechnet man mit einer Dauer von mindestens zwei Jahren.


Allein die Beratungen über einen Handelsvertrag mit der EU könnten sich über Jahre hinziehen - die TTIP-Verhandlungen zwischen den USA und der EU lassen grüßen. Da die EU-Staaten diese Kompetenz an Brüssel abgetreten haben, könnte London nur mit der Kommission verhandeln. "Die würde sich sicher nicht allzu sehr damit beeilen", meint Brok. Zudem wären die Briten "nicht in einer Position der Stärke", meint Stefani Weiss, Leiterin der Brüsseler Büros der Bertelsmann-Stiftung. "Bei Handelsabkommen bestimmt in der Regel derjenige, der den größeren Markt hat."
Eine explizite Bestrafung der Briten hält Weiss aber für weder zielführend noch notwendig. "Die EU würde Großbritannien nach einem Austritt behandeln wie jeden anderen Drittstaat. Das wäre abschreckend genug." Brok würde in diesem Fall gar nicht von einer Bestrafung sprechen wollen: "Wir bestrafen die Briten nicht - sie bekommen nur, was sie wollen."

Manche glauben auch, dass ein Brexit nicht nur negative Folgen haben könnte. Denkbar wäre dann etwa, die schon seit Langem diskutierte Vertiefung der Eurozone oder ein stärkeres Zusammenrücken in der Außen- und Sicherheitspolitik anzugehen, sagt ein einflussreicher EU-Abgeordneter: "Man muss sagen: Endlich sind die Blockade-Briten weg, und wir können tun, was wir für richtig halten."

Quelle: spiegel.de



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