Flüchtlingskrise in Italien: Überfordert

  03 Juni 2016    Gelesen: 299
Flüchtlingskrise in Italien: Überfordert
Die Balkanroute ist dicht, nun steigen die Flüchtlingszahlen in Italien wieder. Die Rechtspopulisten schlachten das Thema kurz vor den Wahlen aus, Premier Renzi gerät ins Schlingern.
Zumindest einzelne Bilder bleiben bisweilen noch im Gedächtnis haften. So wie jenes, das den bärtigen deutschen Helfer zeigt, der am vergangenen Freitag irgendwo auf hoher See vor der libyschen Küste ein zierliches, vielleicht einjähriges Kind in den Armen wiegt, das aussieht, als schlafe es.

In Wahrheit ist das unbekannte Kind zu diesem Zeitpunkt schon tot: eines von mutmaßlich mehr als 800 Opfern, die es in der vergangenen Woche bei Fluchtversuchen übers Mittelmeer in Richtung Italien gegeben haben soll.

In derselben Woche wurden 13.351 Migranten gerettet und erreichten italienischen Boden. Das italienische Innenministerium erwartet in diesem Jahr bis zu 200.000 Flüchtlinge auf der gefährlichsten Route über das Mittelmeer.

Bis zum 25. Mai kamen zwar zwei Prozent weniger Flüchtlinge als im gleichen Vorjahreszeitraum, doch seither, bei relativ stabilem Wetter und ruhiger See, steigen die Zahlen rasant. Laut einem Europol-Bericht warten augenblicklich in Libyen und südlich davon 800.000 Menschen darauf, die EU zu erreichen.

Die Rede ist dabei nicht von Kriegsflüchtlingen aus Syrien oder dem Irak, sondern von Menschen, die überwiegend aus ihren Heimatländern südlich der Sahara geflohen sind. Aus Nigeria und Gambia vorrangig, aus Senegal und Guinea. Im Geschäft mit dem Ticket nach Europa seien, so heißt es im Europol-Bericht, allein im vergangenen Jahr bis zu fünf Milliarden Euro umgesetzt worden.

Italien hat die Flüchtlingskrise früher als andere Länder zu spüren bekommen und früher begonnen, sie zu bekämpfen. Bereits 2013 hatte der damalige Regierungschef Enrico Letta mit "Mare Nostrum" die bis heute einzige humanitäre Mission eines einzelnen EU-Staats gestartet. Später, als sich die Schleuserrouten über die Türkei nach Griechenland und auf die Westbalkanstrecke verlagerten, geriet Italien mit seinen 7600 Kilometern Küstenlinie vorübergehend aus dem Blickfeld.

"Zuwachs an Warnungen aus wahltaktischen Gründen"

Der neue, großflächige Aufbruch zu Italiens Ufern kommt, innenpolitisch gesehen, in einem delikaten Moment: Am Sonntag stehen in mehreren Metropolen Kommunalwahlen an. Unter anderem werden die Bürgermeister in Rom, Neapel, Turin und Mailand gewählt.

Eine Richtungswahl, die für Regierungschef Matteo Renzi vom sozialdemokratischen Partito Democratico als letzter großer Stimmungstest gilt vor dem für Oktober angesetzten Referendum über die Verfassungsreform. Mit diesem hat er sein politisches Überleben ausdrücklich verknüpft.

Nichts kommt Renzi derzeit ungelegener als eine Diskussion über unkontrollierte Zuwanderung, wie sie der Vorsitzende der rechtspopulistischen Lega Nord befördert. Matteo Salvini sagt: "Wir werden uns diese Invasion von illegalen Einwanderern nicht bieten lassen." Regierungschef Renzi entgegnet: "Es gibt keinen Zuwachs bei den Migrantenzahlen im Vergleich zum Vorjahr, es gibt nur einen Zuwachs an Warnungen aus wahltaktischen Gründen".

Außerdem sei das, was Italien an Flüchtlingen aufnehme, wenig gegen das, was die Deutschen im vergangenen Jahr geleistet hätten.

Ob dieser Hinweis die Wähler besänftigt? Allein den wohlhabenden Regionen Lombardei und Venetien sind fast ein Viertel aller Migranten zur Unterbringung zugewiesen worden. Insgesamt 800 Gemeinden in Italien stellen 119.000 Plätze für Flüchtlinge. Die Kapazitäten sind mittlerweile erschöpft, beziehungsweise überschritten. Die Präfekten wurden beinahe flehentlich aufgefordert, 5600 weitere Plätze zu schaffen.

Wie aber dauerhaft Abhilfe schaffen? Der italienische Innenminister Angelino Alfano hat "schwimmende Hotspots" angeregt, eine seiner Meinung nach "schnelle und innovative Lösung", die zur Folge hätte, dass die Entscheidung über die Asylwürdigkeit eines Antragsstellers aufs offene Meer verlagert würde. Menschen- und Völkerrechtler haben bereits Protest angemeldet.

Renzi kämpft einen Mehrfrontenkampf

Und auch der unter dem Titel "Migration Compact" in Brüssel eingebrachte Plan von Premier Renzi trägt vorläufig keine Früchte. Er regt an, den afrikanischen Herkunftsländern der Flüchtlinge entgegenzukommen, wirtschaftlich, sozial und mit erleichterten Einreisebestimmungen. Im Gegenzug wird Bereitschaft zur Zusammenarbeit erwartet, wenn es um die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber geht.

Renzi kämpft derzeit einen Mehrfrontenkampf. In einem Brandbrief aus Brüssel vom 25. Mai sind seine Behörden gescholten worden, sie ergriffen "noch immer unzulängliche Maßnahmen" gegen die Massenimmigration - nur jeder zweite Flüchtlinge werde, wie eigentlich vorgesehen, in einem "Hotspot" ordentlich registriert. An der italienischen Nordgrenze wiederum haben die Österreicher bereits wissen lassen, sie seien durchaus in der Lage und auch willens, ihre Grenzen zu kontrollieren. Und auf der anderen Seite des Mittelmeers? Geben sich Türken, vor allem aber Ägypter nach Aussagen sizilianischer Staatsanwälte erkennbar wenig Mühe, den Flüchtlingstransfer übers Meer in Richtung Italien zu stoppen.

Zum Teil, so zitierte die Tageszeitung "Fatto Quotidiano" am Mittwoch aus Ermittlungsakten, wüssten italienische Ermittler bis ins Detail, wann die illegalen Schiffspassagen, etwa aus der Hafenstadt Rasheed bei Alexandria, in See stechen würden - doch Amtshilfe von ägyptischer Seite sei nicht zu erwarten.

"Zwei Boote werden vermutlich diese, spätestens übernächste Nacht aufbrechen", heißt es in einem Geheimpapier der italienischen Behörden vom 16. Mai. Sogar der Name des für die Fahrt vorgesehenen Kapitäns und der momentane Aufenthaltsort der Flüchtlinge seien bekannt - und dass die Schlepper ihren Klienten bereits erklärt hätten, es reiche aus, kurz nach Erreichen der internationalen Gewässer einen SOS-Notruf an die italienische Kriegsmarine abzusetzen. Dann sei die Rettung gewährleistet.


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